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Was ist schon normal von Marc Eichstedt

Ab und zu besuchen wir mit unseren beiden Hunden Herrn Doktor und Charlie den nahegelegenen Hundefreilauf. Dabei wurde ich letztens Zeuge folgender Situation. Zwei Rüden versuchten unaufhörlich, ihre Nasen in den Genitalbereich einer jungen Hündin zu stecken. Dies war der Hündin sichtlich unangenehm. Mit aufgewölbtem Rücken, angelegten Ohren und eingeklemmter Rute lief sie hechelnd zu ihrer Halterin und stellte sich hilfesuchend neben diese. Von all dem bekam diese aber leider nichts mit, da sie völlig in Gedanken versunken auf ihr Handy starrte. Als die Hündin bemerkte, dass von ihrem Frauchen keine Unterstützung zu erwarten war, setzte sie sich verzweifelt hin, in der Hoffnung, dass die beiden Hunde dann aufhören würden. Leider blieb ihre Strategie erfolglos und die beiden liebestollen Rüden ließen nicht von ihr ab. In ihrer Verzweiflung schoss die Hündin dann nach vorne und schnappte lautstark nach den beiden aufdringlichen Casanovas. Diese sprangen erschrocken zurück und blieben nun sichtlich beeindruckt auf Abstand. Auf die fragenden Gesichter der umstehenden Menschen antwortete die Halterin: „Oh sorry, meine Hündin mag keine anderen Hunde, die ist nicht ganz normal“. „Kein Problem“, entgegnete die Halterin einer der Rüden. „Mein Hund ist auch nicht normal. Immer wenn wir ihn allein lassen, heult und jault er, sodass sich die nebenan wohnenden Personen schon beschwert haben“. „Und meiner bellt im Garten jeden Menschen an, der an unserem Grundstück vorbeigeht“ erklärt der Halter des anderen Rüden. „Das hat unser vorheriger Hund nicht gemacht, der war völlig normal“. Auf dem Weg nach Hause geistern die Aussagen der Hundehalter:innen noch immer in meinem Kopf herum. Ab wann verhält sich ein Hund eigentlich normal und welches Verhaltens ist wirklich gestört?

Normalverhalten des Hundes

Durch die Domestikation des Hundes zeigt dieser ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zum Menschen und ist ein wahrer Anpassungskünstler geworden, der mit den verschiedenen Lebensgewohnheiten seiner Menschen erstaunlich gut klarkommt. Dennoch ist das arteigene Verhalten unserer Hunde nach wie vor stark ausgeprägt und daher ist es sehr schwierig, das Normalverhalten eines Hundes zu definieren, da es den Hund gar nicht gibt. Aufgrund der immensen Vielfalt an verschiedenen Rassen und deren unterschiedlicher Eigenschaften und Talente ist es nahezu unmöglich, ein Normalverhalten festzulegen. Hinter sich bewegender Beute her zu hetzen ist für den Jagdhund völlig normal, würde beim Wachhund aber eher als unnormal gelten. Aber selbst innerhalb einer Rasse und sogar innerhalb eines Wurfes ist ein Normalverhalten nur schwer festzulegen. Durch die unterschiedlichen Persönlichkeiten der einzelnen Hundeindividuen reagieren diese bisweilen auch unterschiedlich auf verschiedene Reize und in verschiedenen Situationen. Ein eher furchtsamer oder ängstlicher Hund neigt dazu, neue Reize als bedrohlich wahrzunehmen und dementsprechende Vermeidungsstrategien an den Tag zu legen. Auch im Bereich der Geselligkeit, Empfänglichkeit für Training, Aggressivität, dem Aktivitätslevel sowie der Reaktivität und Selbstregulation gibt es innerhalb der Hundewelt unterschiedliche Hundetypen, die eine Definition des Normalverhaltens alles andere als erleichtern.

Verhalten wird vom Hund dann gezeigt, wenn sich ein Ungleichgewicht im Organismus bemerkbar macht und dadurch das körperliche oder seelische Wohlbefinden beeinträchtigt wird. Verspürt der Hund Durst, dann macht er sich auf dem Weg zum Wassernapf und trinkt einen Schluck. Wassermangel behoben, Problem gelöst. Ein Artgenosse nähert sich dem Kauknochen, an dem der Hund gerade knabbert. Der sich nähernde Hund wird fixiert, die Lefzen werden etwas hochgehoben und ein leises Knurren ist zu hören. Der sich nähernde Hund bleibt stehen und geht dann weg. Distanzvergrößerung erreicht, Konflikt beendet. Immer wenn ein Hund es schafft, durch sein Verhalten das vorhandene innere Ungleichgewicht wiederherzustellen und dadurch sein Wohlbehagen zu steigern, dann können wir von Normalverhalten sprechen.

Suchst du Streit?

Aggressives Verhalten gehört zum Normalverhalten des Hundes und sichert sein Überleben und das seiner Gruppe. So hat Konrad Lorenz es im Hinblick auf das Brutpflegeverhalten auch so trefflich formuliert: „Wohl gibt es Aggression ohne Liebe, aber keine Liebe ohne Aggression“ (Lorenz, Konrad, 1998).

Durch aggressives Verhalten werden unter Hunden Handlungsspielräume ausgelotet, es ist unverzichtbarer Bestandteil des Sozialverhaltens bei Caniden. Kehren wir also zurück zur Hündin, die im Hundefreilauf den beiden aufdringlichen Rüden durch ihr aggressives Verhalten unmissverständlich klar gemacht hat, dass eine weitere Annährung nicht gewünscht ist und diese doch ein wenig mehr Distanz herstellen mögen. Der britische Verhaltensbiologe John Archer drückt es so aus: „Aggression ist ein Regulationsverhalten, das von einem Tier eingesetzt wird, um störende Reize aus seiner unmittelbaren Umgebung zu entfernen“ (Archer, John, 1988. The behavioural biology of aggression. Cambridge University Press). 

Die Verhaltensbiologie ordnet das hundliche Aggressionsverhalten dem agonistischen Verhalten zu, welches im Funktionskreis des Sozialverhaltens und der Kommunikation zu finden ist. „Aggression ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Sozialverbandes, ein Regulativ für das Zusammenleben, für das ausgewogene Zusammenarbeiten und Streiten um Ressourcen, Requisiten und Randbedingungen (Futter, Platz, Bindungspartner) in hierarchisch strukturierten Verbänden, Rudeln oder Gruppen“ (Feddersen-Petersen 2001, S.94).

Wenn sich der Hund den Umständen entsprechend verhältnismäßig aggressiv verhält, dann handelt er normal und nicht krankhaft. Dies bedeutet aber nicht, dass jegliches aggressive Verhalten akzeptiert werden muss. Schnappt der Hund nach vorbeilaufenden Kindern, dann muss ich meinem Hund klar vermitteln, dass dieses Verhalten im Zusammenleben nicht tolerierbar ist und ich als Mensch verantwortlich dafür bin, Distanz zu störenden Reizen herzustellen.

Unerwünschtes Verhalten

Als unerwünschtes Verhalten können alle Verhaltensweisen eines Hundes bezeichnet werden, die der Halter oder die Halterin so nicht erwartet oder sich erhofft hatte. Oft handelt es sich dabei um Elemente aus dem normalen Verhaltensrepertoire des Hundes, von denen der Mensch auch weiß, dass diese zum Normalverhalten seines Vierbeiners gehören, die aber als lästig empfunden werden oder für die der Mensch im Großen und Ganzen Verständnis hat, wenn diese in anderen Kontexten gezeigt werden. Viele Hundehalter:innen schaffen sich einen Hund an, damit dieser potentielle einbrechende Personen abschreckt. Bellt der Hund aber im Garten jeden Menschen am Zaun an, dann empfinden sie dies als problematisch. 

Problemverhalten

Hierunter zählen Verhaltensauffälligkeiten, die nicht nur aus menschlicher Sicht störend oder problematisch für das Zusammenleben sind, sondern dem Hund solchen Stress bereiten, den er nicht mehr bewältigen kann. Wir erinnern uns an den Rüden im Hundefreilauf, der während der Abwesenheit der Halter:innen jault und heult. Für den Hund als sehr soziales Lebewesen bedeutet die Trennung von seiner Gruppe Stress. Allein auf sich gestellt fühlt man sich schnell unwohl, denn im Gruppenverband können Gefahren besser abgewehrt und Ressourcen effektiv gemeinsam verteidigt werden. Daher ist die Trennungsreaktion des Hundes alles andere als unnormal. Vielmehr dient sie dazu, das entstandene Problem zu lösen. Wird das Alleinbleiben nicht frühzeitig geübt, dann leidet der Hund unter einer Dauerbelastung, von der er sich nicht erholen kann. 

Verhaltensstörung

Dagegen muss die echte Verhaltensstörung abgegrenzt werden. “Eine Verhaltensstörung ist eine situationsinadäquate Verhaltensauffälligkeit eines Individuums. Sie tritt bevorzugt unter dem Organismus überfordernden Umweltgegebenheiten auf. Sie ist gekennzeichnet durch solche Verhaltensweisen beziehungsweise Verhaltenssequenzen, die sich in Dauer und Häufigkeit sowie in ihrer räumlichen und zeitlichen Einstellung gegenüber Umweltkonstellationen auffällig von der Norm unterscheiden“ (Feddersen-Petersen 2004, S.475). Wenn das gezeigte Verhalten des Hundes also von seiner ursprünglichen Funktion entkoppelt ist, den eigenen Organismus schädigt und der betroffene Hund keine Bewältigungsstrategien zur Verfügung hat, sich an die bestehenden Verhältnisse um ihn herum anzupassen, um seinen Zustand zu verbessern, dann können wir von einer echten Verhaltensstörung sprechen. Diese ist auch immer mit Leid für das betroffene Individuum verbunden. Die körperlich und seelisch empfundenen dauerhaften Unlustgefühle beeinträchtigen das Wohlbefinden des Hundes, es kommt zum Ausfall des Komfort-, Explorations- und Spielverhaltens und im Extremfall zu Apathie oder Stereotypien.

Ich kann nicht anders – Stereotypien und Zwangshandlungen

Die große Mehrzahl aller Verhaltensstörungen bei Hunden sind erworbene Verhaltensstörungen infolge fehlender Umweltreize oder infolge von Umweltbelastungen, die zu Fehlanpassungen führen (Feddersen-Petersen, 1991). Viele Verhaltensstörungen haben ihren Ursprung in kleineren oder größeren Verhaltensproblemen und dienten anfangs noch dazu, akuten Stress zu mildern. Doch konnte der Hund durch das gezeigte Verhalten lediglich eine kurzfristige Entspannung erreichen, der auslösende Stressor ist immer noch vorhanden, sodass der Stresszustand auf Dauer chronisch wird. Immer öfter zeigt der Hund nun das entsprechende Verhalten, das irgendwann ritualisiert abläuft und im schlimmsten Fall in einer Stereotypie oder Zwangshandlung endet. Diese im englischen Sprachgebrauch als „Obsessive Compulsive Disorders“ (OCD) bzw. „Compulsive Behaviour Disorders“ (CBC) bezeichneten Verhaltensweisen sind oft das Ergebnis einer Überforderung der Anpassungsmöglichkeiten des betroffenen Hundes an die Haltungsbedingungen. Es erscheint, als wenn die gezeigten Verhaltensweisen keinem offensichtlichen Zweck dienen und in ihrer Ausführung starr und / oder wiederholt ablaufen. Auch nach einer Verbesserung der äußeren Bedingungen wird das Verhalten meist beibehalten. Heutzutage spricht man von abnorm repetitivem Verhalten (ARV), welches zu einer reduzierten Wahrnehmung der Umwelt sowie zu einer reduzierten Erregbarkeit des betroffenen Hundes führt. Abnorm repetitives Verhalten kann aus verschiedenen Funktionskreisen hervorgehen. So können solche Verhaltensweisen im Bereich der Körperpflege entstehen (Kauen an Pfoten, exzessives Belecken des eigenen Körpers oder von Objekten, Flankensaugen) oder aus dem stoffwechselbedingten Verhalten hervorgehen (vermehrte Wasseraufnahme, krankhaft gesteigerte Gefräßigkeit, Fressen ungewöhnlicher, ungenießbarer Stoffe). Viele Hunde zeigen auch lokomotorische Verhaltensstörungen wie Kreisbewegungen, Achten-Laufen, Hochspringen am Ort, Zaunlaufen, Graben oder Erstarren. Ebenso können autoaggressive Verhaltensmuster gezeigt werden z. B. Beißen in eigene Gliedmaßen. Im Grunde kann jedes Verhalten in zwanghaft ritualisierter Ausprägung gezeigt werden.

ARV können in drei Kategorien eingeteilt werden:

  1. Zu Beginn wird das Verhalten zwar regelmäßig, aber nur kurz gezeigt. Es gibt erkennbare Stressoren als Auslöser und der betroffene Hund beendet das Verhalten auch selbständig wieder. Das Wohlbefinden ist noch nicht stark beeinträchtigt.

  2. Das Verhalten wird regelmäßiger und ausdauernder gezeigt. Nun ist das Verhalten auch außerhalb erkennbarer Stressoren sichtbar und der Hund hört nicht mehr von allein damit auf, kann aber durch äußere Einflüsse an der Ausführung gehindert werden. Der veränderte Schlaf-Wach-Rhythmus ist kennzeichnend für diese Phase.

  3. Jetzt wird das Verhalten regelmäßig gezeigt, es gibt, wenn überhaupt nur kurze Unterbrechungen, da eine körperliche Erschöpfung eine weitere Ausführung behindert. Es kommt zum Ausfall des Komfortverhaltens, der Schlaf-Wach-Rhythmus ist völlig durcheinandergekommen. Die abnorm repetitiven Verhaltensweisen können auch von außen nicht mehr unterbrochen werden, solche Versuche erzeugen beim Hund noch mehr Stress, welcher wiederrum zum Auslöser für abnorm repetitives Verhalten werden.

Therapie und Training

Eine erfolgreiche Therapie bedingt verschiedene Faktoren. Zum einen geht es im ersten Schritt darum, durch Managementmaßnahmen die bekannten Stressoren zu verringern, um den Hund an der weiteren Ausführung zu hindern. Dies kann bedeuten, die bisherige Haltungsform zu verändern und diese an die entsprechenden Bedürfnisse des Hundes anzupassen. Falls möglich, sollte auch eine geeignete Beschäftigungsform angeboten werden, um den betroffenen Vierbeiner physisch wie psychisch auszulasten.

Ebenso muss eine umfassende gesundheitliche Kontrolle durchgeführt werden, um bestehende organische Ursachen auszuschließen oder diese abzustellen. 

In der Therapie geht es zum einen darum, dass der betroffene Hund lernt, eine neue, nun positive Sichtweise zum bestehenden Problem oder den auslösenden Reizen zu entwickeln und andererseits alternative Verhaltensweisen anzubieten, mit denen er ebenfalls seine Probleme lösen und den entstehenden Stress abbauen kann. Idealerweise ist das erlerne Alternativverhalten inkompatibel mit der bisherig gezeigten Verhaltensstörung. 

Ob und inwieweit auch eine medikamentöse Behandlung nötig ist, um den Hund für eine Therapie ansprechbar zu machen, muss in einer auf Verhaltenstherapie spezialisierten Tierarztpraxis entschieden werden.

Vorbeugen ist besser als Heilen

Dieser Leitsatz gilt auch in Bezug auf das Problemverhalten von Hunden und echten Verhaltensstörungen. Wenn die hundlichen Grundbedürfnisse im Zusammenleben mit Menschen beachtet und befriedigt werden, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Hunde problematische Verhaltensweisen entwickeln. Es liegt also in unserer Verantwortung, der Entstehung von Problemverhalten oder Verhaltensstörungen entgegenzuwirken. Wir vergessen nur allzu oft, dass unsere Hunde erst einmal lernen müssen, sich in der Menschenwelt zurechtzufinden und nicht automatisch wissen, welches Verhalten erwünscht oder unerwünscht ist. Es ist unsere Aufgabe, unseren Hunden beizubringen, entspannt in unserer Abwesenheit zu Hause zu sein, an lockerer Leine zu gehen, Menschen nicht anzuspringen, vorbeifliegende Bälle zu ignorieren, ruhig im Restaurant zu liegen und entspannt Auto zu fahren. Ein Hund kann nur so "gut funktionieren“, wie wir es ihm beigebracht haben. Unsere Fehler oder Versäumnisse in der Hundeerziehung dürfen nicht zu Lasten des Hundes gehen. Und eine erfolgreiche Erziehung ermöglicht dem Hund auch viel mehr Freiheiten in unserer Gesellschaft und führt zu einem entspannteren Zusammenleben von Zwei- und Vierbeiner.

Quellen:

  • Archer, John (1988): The behavioural biology of aggression. Cambridge University Press

  • Feddersen-Petersen, Dr. Dorit U. (1991): Verhaltensstörungen bei Hunden - Versuch ihrer Klassifizierung. Deutsche tierärztliche Wochenschrift 98, S. 15-19

  • Feddersen-Petersen, Dr. Dorit, U. (2001): Zur Biologie der Aggression des Hundes; Deutsche tierärztliche Wochenschrift 108, S.94-101

  • Lorenz, Konrad (1998): Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Dtv

  • Schöning, Barbara (2001):