Erlernte Entspannung
Wenn wir Menschen uns zu arg aufregen und eventuell in Rage geraten, fällt von unserem sozialen Umfeld manchmal der neudeutsche Ausdruck „chill mal“. Ich gebe zu, dieser Ausdruck ist eher bei der jüngeren Generation gebräuchlich, aber dennoch verstehen wir, was gemeint ist. Für Menschen ab ca. 35 könnte man „chill mal“ mit „entspann Dich mal“ oder „reg Dich nicht auf“ übersetzen, wobei dies manchmal einfacher gesagt ist, als getan. Viele Dinge regen uns auf und es dauert eine ganze Weile bis wir wieder in die so genannte Entspannung kommen. Dazu hat jeder Mensch seine eigene Methode. Der eine macht Yoga, ein anderer dreht den Fernseher auf, geht laufen oder nimmt sich ein Buch oder ein Bier.
Da unseren Hunden keine der oben erwähnten Methoden (außer körperliche Auslastung) zur Verfügung steht, ist es für uns Zweibeiner wichtig zu wissen, wie wir unsere Hunde in eine so genannte erlernte oder konditionierte Entspannung bringen können.
Viele der unerwünschten Verhaltensweisen unserer Hunde (wie z. B. Ziehen an der Leine, Unaufmerksamkeit, Kläffen, Anspringen usw.) beruhen nämlich auf der Tatsache, dass sich unsere Hunde in einem erhöhten Erregungszustand befinden – also dem Gegenteil der Entspannung. Natürlich wollen wir „keine dressierten Affen“ – also ich zumindest nicht. Ein Hund soll ein Hund bleiben und sein naturgegebenes Temperament auch mal ausleben können, nur kann uns die so genannte „erlernte Entspannung“ dabei helfen, den gemeinsamen Alltag bei Bedarf stressfreier für beide Parteien zu gestalten und viele aus Menschensicht problematische Verhaltensweisen zu reduzieren.
Wie schon der Begriff „erlernte Entspannung“ sagt, muss diese Entspannung zuerst in ruhigen, stressfreien Situationen erlernt, also konditioniert werden, um sie dann bei Bedarf auch abrufen zu können. Wer sich schon einmal mit dem Begriff „Klassische Konditionierung“ aus dem Bereich des Lernverhaltens auseinandergesetzt hat, weiß, dass diese durch die Verknüpfung eines Reizes mit einer Reaktion erfolgt. Genauer gesagt, wir verknüpfen hierbei den Reiz durch ein verbales Signal (wie z.B. „ruhig“) mit einer unkonditionierten Reaktion (wie z. B. der Entspannung bei einer Massage, beim Streicheln oder Bürsten). Da, wie schon mehrfach beschrieben, jeder Hund ein eigenes Individuum bzw. eine eigene Persönlichkeit ist, liegt es an uns Menschen herauszufinden, was meinen Hund am besten und schnellsten entspannt. Habe ich z. B. einen Hund, der eventuell in seinem Vorleben mit Bürsten keine gute Erfahrung gemacht hat (entweder wurde dieser damit geschlagen oder unsanft frisiert), werde ich durch Bürsten keine Entspannung erreichen. Wähle ich aber die richtige Methode, tritt mit großer Wahrscheinlichkeit bald eine gewisse Entspannung ein und durch Wiederholungen festigt sich die Verknüpfung mit dem Signal immer mehr, sodass diese irgendwann auch in Situationen mit höherem Erregungsgrad allein durch das Signal abgerufen werden kann.
Körpersprachlich erkennen wir diese Entspannung unseres Hundes an der hängenden Rute und der entspannten Wirbelsäule. Das Gesicht des Hundes – könnte man sagen – „fällt hinunter“. Die Mundwinkel sind komplett entspannt, die Atmung ruhig, die Augen geschlossen. Die meisten Hunde gehen dazu in Seitenlage.
Schrittweise könnte man den Vorgang der „erlernten Entspannung“ wie folgt skizzieren:
• Nutzen Sie eine entspannte Situation mit Ihrem Hund. Stellen Sie sich vor, Sie sind nach einem aufregenden Tag zu Hause auf dem Sofa und auch Ihr Hund entspannt mit Ihnen.
• Im Vorfeld haben Sie sich schon ein Wort (Signal) zur Konditionierung für die Entspannung überlegt. Es sollte ein Wort sein, dass sich ruhig sprechen lässt. Ihrer Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Es muss Ihnen nur im Bedarfsfall auch einfallen.
• Nun berühren Sie Ihren Hund und dabei sagen Sie ruhig das „Entspannungswort“
• Dies wiederholen Sie bitte 4 -5 mal.
Generell ist noch zu erwähnen, dass es auch Hunde gibt, die durch Berührung derart hochfahren, dass keine Entspannung eintritt. Sollte dieses Verhaltensmuster auf Ihren Hund zutreffen, können Sie die Konditionierung einfach ohne Berührung vornehmen. D.h. Sie sagen einfach nur das Signal mehrfach. Wenn Sie den Hund dabei nicht ansehen, wird er bald merken, dass Sie im Grunde nichts von ihm wollen und er ruhig weiter entspannen kann – auch wenn er den Kopf dazwischen mal angehoben hat. Auch hier wird der Hund das Wort nach einigen Wiederholungen mit Entspannung verknüpfen.
Das Gleiche gilt natürlich auch für Hunde, die aufgrund möglicherweise schlechter oder nicht gemachter Erfahrung mit Menschen zu viel Nähe meiden oder generell Berührungen aus gesundheitlichen Gründen unangenehm finden. Das Empfinden Ihres Hundes hier richtig zu lesen und den Hund nicht zwangs zu beglücken, fällt erfahrungsgemäß leider vielen Hundehaltern schwer.
Wenn es Ihnen aber möglich ist, Ihren Hund durch Berührungen in den erwünschten Entspannungszustand zu bringen, ist diese Variante auf jeden Fall vorzuziehen. Bei der körperlichen Berührung wird das Hormon Oxytocin freigesetzt. Dieses spielt eine wichtige Rolle für die Entspannung und für den Aufbau oder die Vertiefung sozialer Bindungen. D.h. es hat einen positiven Einfluss auf die Mensch-Hund-Beziehung.
Wie viele Wiederholungen zur Konditionierung und dann zur Übertragung in Stresssituationen notwendig sind, ist von Hund zu Hund unterschiedlich. Genauso wie bei uns Menschen lernt und verknüpft der eine schneller, der andere langsamer – gerät der eine schneller in Rage und den anderen bringt nichts aus der Ruhe. Es wird also einen Unterschied machen, ob man einen Neufundländer der entspannten Sorte oder einen hibbeligen Jack Russel Terrier sein Eigen nennt.
Da die Reaktionen Aggression oder auch Angst umso stärker ausfallen, je höher der Grad der Erregung ist, ist es Ziel, durch die „erlernte Entspannung“ das Erregungsniveau unserer Hunde so weit zu senken, dass diese in Stresssituationen ansprechbar für unsere Signale werden. Natürlich ist die erlernte Entspannung kein Allheilmittel, kein Ein- und Ausschaltknopf für unerwünschtes Verhalten unserer Hunde. Gleichzeitig kann es aber Mensch und Hund zu gelassenerem Verhalten helfen.
Wichtig ist jedoch, dass Sie immer dann, wenn Sie Ihr Entspannungssignal in einer für den Hund stressigen Situation verwendet haben, dieses sozusagen wieder „neu aufladen“ müssen. Sie müssen nun also erneut in einer entspannten Situation das Signal mit der Entspannung verknüpfen!
Artikel meiner lieben Kollegin Lenka Schlager (Martin Rütter DOGS Mödling) für Your Dog Magazin