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Aber er will doch nur Zeitunglesen!

Erschienen in “Martin Rütter - Das Magazin”

Führt bei der typischen kurzen Gassirunde um den Block eigentlich der Mensch seinen Hund oder doch eher der Hund seinen Menschen aus? Und wie harmlos ist das „Zeitunglesen“ überhaupt?

Wenn Paulchen mit Herrn Müller den Gehweg entlangtrottet, dann bleibt er alle paar Meter stehen, um ausgiebig zu schnüffeln: Am Laternenpfosten, am einzelnen Baum auf der Grünfläche, an der nächsten Hausecke und gern auch an dem einen Grasbüschel, das sich durch den Asphalt gekämpft hat. Herr Müller am anderen Ende der Leine wartet mehr oder weniger geduldig auf seinen Vierbeiner. Er lässt ihn alle wichtigen Stellen genau inspizieren und das Beinchen heben. Denn schließlich geht er diese Abendrunde nur für ihn. Paulchen soll noch mal Pipi machen und das teilen Hunde ja gern mal auf mehrere Stellen auf. Das ist für Herrn Müller und die allermeisten Hundehalter:innen völlig normal.

Und sie haben alle recht: Es ist völlig normal und arttypisch für unsere Hunde, Urin und Kot für gezieltes Markierverhalten zu verwenden. So können sie ihr Revier kenntlich machen, sich in neuen Gebieten besser zurechtfinden oder besondere Orte wie z. B. die übliche Badebucht am Flussufer für sich beanspruchen. Über ihre hervorragende, uns Menschen um ein Vielfaches überlegene Nase, erhalten sie nicht nur Informationen zu Geschlecht und Alter ihrer „Vorgänger“. Sie sind auch in der Lage, Individualgerüche zu erkennen und zuzuordnen. Sie wissen also unter Umständen, wer eine halbe Stunde vor ihnen denselben Weg zurückgelegt hat. Sexuell motivierte Hunde können am Geruch überprüfen, wie nah die Nachbarshündin Emmi ihrer nächsten Läufigkeit ist und durch Übermarkieren der Konkurrenz vermitteln, dass diese Dame schon den richtigen Rüden an ihrer Seite hat. Oder eine andere Hündin setzt ihren Duft über den von Emmi und verwischt sozusagen deren Spur, damit sich die Rüden lieber mit ihr selbst beschäftigen.

Erwachsene Hunde haben ernsthafte Interessen

Die olfaktorische Kommunikation unserer Hunde ist komplex und facettenreich. Sie dient der Übermittlung territorialer und sexueller Interessen. Das kann nun leider durchaus zum Problem für Herrn Müller und alle anderen Hundehalter:innen werden, die ihrem Vierbeiner gutmütig das „Zeitunglesen“ ermöglichen. 

Paulchen markiert jeden Tag zweimal den Telefonmast neben Aikas Gartenzaun. Ebenfalls jeden Tag erschnüffelt die territorial motivierte Aika Paulchens Geruch und markiert über die Stelle. Sie macht klar, dass Paulchen sich hier getäuscht hat: Das ist nicht sein Telefonmast, sondern ihrer! Beide beanspruchen anhaltend dieselbe Stelle, was Konfliktpotenzial schürt, wenn sie sich demnächst beim Gassigehen begegnen.

Im städtischen, aber auch schon im dörflichen Bereich leben viele Hunde auf relativ kleiner Fläche. Wenn wir ihnen erlauben, die Straßen und Parks um das eigene Haus herum wahllos zu markieren, geben wir ihnen aus Hundesicht auch den Auftrag, ihr Revier im Zweifelsfall zu verteidigen. Aber selbst wenn es nie zu aggressiven Auseinandersetzungen kommt: Wenn wir brav anhalten und neben unserem Vierbeiner warten, sobald er entscheidet, dass es genau hier wichtig ist, seinen Duft zu hinterlassen (also quasi sein Namensschild in den Boden zu klopfen!) – wieso sollte er dann nicht auch die Entscheidung treffen, sich intensiv mit dem entgegenkommenden Hund zu beschäftigen, anstatt uns an lockerer Leine zu folgen? Wieso sollte er uns in einer tatsächlichen Begegnungssituation das Ruder überlassen, wenn er doch die Vorstufe dazu, das Abchecken aller Hundegerüche, alltäglich selbständig übernimmt? 

Kommunikation findet nicht erst in der Begegnung statt

Als Trainerin erlebe ich das Markierverhalten unserer Hunde wieder und wieder als unterschätztes, vermenschlichtes und verharmlostes Thema. Die meisten meiner Kunden und Kundinnen kennen zu Beginn nicht ansatzweise den Stellenwert, den die Kommunikation über Gerüche für ihre Hunde hat. Sie möchten ein bestimmtes Verhalten, z. B. Aggressionsverhalten an der Leine, abschaffen und wundern sich, warum ich mich erkundige, wie oft und wo ihr Hund sich löst: Weil hier bereits die Kommunikation mit den hündischen Kollegen beginnt, die man dann im Laufe des Spaziergangs evtl. trifft. UND weil es natürlich auch eine Bedeutung für das interne Verhältnis eines Mensch-Hund-Teams hat, wer von beiden eine Aktion vorgibt und wer sich überwiegend an das Tempo des anderen anpasst.

Was bedeutet das nun aber für das Training? Sollen wir jeden Schnüffel- und Markierversuch unseres Hundes konsequent unterbinden oder gar bestrafen? Natürlich nicht! Gerade weil die Beschäftigung mit den Gerüchen ihrer Artgenossen so wichtig für unsere Hunde ist, soll sie auch Teil des Gassigangs bleiben. Aber der Mensch als der Verantwortliche gibt vor, wo und wie lange sein Vierbeiner sich nach Lust und Laune mit dem Boden beschäftigen darf.

Markieren sollte übrigens nicht nur aus Sicht der hündischen Kommunikation vom Menschen gesteuert werden. Gerade wir Hundemenschen müssen Rücksicht nehmen, und die Bedürfnisse sowie das Eigentum anderer Menschen respektieren. Und dazu gehört auch, den Hund nicht an die Hausecke der städtischen Apotheke oder das Gartentor des Nachbarn pinkeln zu lassen!

Wenn wir also unsere erwachsenen Hunde in ihren Motivationen ernst nehmen und sie nicht als infantile Wesen betrachten, die immerzu und mit jedem anderen Vierbeiner spielen möchten, dann verstehen wir, dass sie sich (aus ihrer Sicht) sinnvolle Jobs im Leben suchen: Lassen wir unsere Hunde regelmäßig unbeaufsichtigt im Garten allein, wird die Mehrzahl von ihnen anfangen, das Grundstück zu bewachen, indem sie am Zaun „patrouillieren“ oder sich so platzieren, dass sie den besten Überblick haben. Potenzielle Eindringlinge werden mit zunehmender Übung durch Knurren oder Bellen abgeschreckt. Lassen wir unsere jagdlich motivierten Hunde frei und auf große Distanz über die Felder streifen, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn sie sich mehr für Mäuse und Hasen interessieren als für uns. Und wenn wir unsere Hunde in bewohnten Gebieten nach Gutdünken markieren lassen, dann übergeben wir ihnen die Aufgabe, für ihre und unsere Sicherheit beim Spaziergang zu sorgen. 

Neue Beschäftigungsmöglichkeiten finden

Diese Verantwortung bedeutet durchaus Stress und Anspannung für die meisten Hunde. Sie müssen sich Konflikten stellen, denen sie nicht ausgesetzt wären, würden wir die Rollen vertauschen: Der Mensch trifft die Entscheidung, welcher Weg gewählt und wo angehalten wird, mit wem in direkten Kontakt getreten und an wem einfach nur vorbei gegangen wird. Nimmt der Mensch seinem Hund aber die bisherige Aufgabe, muss er ihm auch adäquate Alternativen bieten. Denn Hunde sind nicht gern arbeitslos! Im Zweifel können gute Trainer:innen helfen, neue Beschäftigungsideen auch für Hunde zu finden, die noch vollkommen uninteressiert an jeder Zusammenarbeit mit ihrem Menschen scheinen. Ich kann nicht oft genug betonen, dass gemeinsam erlebter Spaß und zusammen gemeisterte Herausforderungen der Katalysator schlechthin für jede Mensch-Hund-Beziehung sind.

Probiere doch einmal, die folgenden Tipps beim Spaziergang umzusetzen und beobachte, was sich in den nächsten vier bis sechs Wochen für dich und deinen Hund verändert:

• Erlaube deinem Hund, sich vor dem Spaziergang im Garten zu lösen.

• Verlasse Haus und Garten immer einen Schritt vor deinem Hund. Am besten wartet dein Hund in einem Bleib-Signal. Wenn das noch nicht möglich ist, halte ihn mit der am Brustgeschirr befestigten Leine hinter dir.

• Reduziere gemeinsame Beschäftigung im Haus auf Bleib-Übungen und z. B. das Erlernen neuer Tricks. Alle dynamischen Spiele wie Apportieren oder Futtersuche finden nur noch im Garten und beim Spaziergang statt.

• Füttere deinen Hund nicht vor dem Spaziergang. Nimm einen Teil seines Futters oder Leckerli mit nach draußen und biete ihm schon im Garten spannende Suchspiele etc. an. Ein guter gemeinsamer Start ist die beste Basis für einen Ausflug als echtes Team! 

• Um zu vermeiden, dass dein Hund ständig am Rand anhält, um zu schnüffeln, halte die Leine kurz und gehe in der Mitte des Weges, mit möglichst viel Abstand zu Grünstreifen und Co.

• Gib deinem Hund zwischendurch immer wieder die Chance, sich kurz zu lösen: Suche selbst den Ort aus! Wähle dafür möglichst Stellen, die nicht so häufig von anderen Hunden frequentiert werden. So muss dein Vierbeiner nicht unnötig lange einhalten, kann sich aber auch nicht um die strategisch wichtigen Stellen „kümmern“, die ihm wieder Verantwortung übertragen würden.

• Baue immer wieder zwischendurch einfache Spiele ein, die dein Hund gern mag. Kullere z. B. Kekse über den Asphalt oder spicke die grobe Rinde eines Baumes mit Käsestückchen, die dein Hund dann suchen darf. Aber Achtung, bei einem wirklich „schnüffelmotivierten“ Hund sollten die Kekse nicht den Grünstreifen erreichen und der Käse nicht am (aus Hundesicht) wichtigsten Baum der Straße kleben. Denn sonst könnte sich dein Hund leicht umentscheiden und sich wieder auf die anderen Gerüche konzentrieren, von denen du ihn doch gerade ablenken möchtest.

• Wenn dein Hund sich gut auf deine Spielangebote eingelassen hat, dann hat er zwischendurch auch Freizeit verdient: Gib ihn wieder an „uninteressanten“ Stellen frei. Also nicht direkt am Eingang zum Park, sondern erst hundert Meter weiter hinten etc. Hier kann er nun für einen Zeitraum, den du bestimmst, nach Herzenslust schnüffeln und markieren.

Insgesamt verbringt dein Hund beim Spaziergang nun mehr Zeit im Kontakt mit dir und darf trotzdem noch seinen eigenen hündischen Neigungen nachgehen – auf deine Entscheidung hin, nicht auf seine! Langfristig werden derart gestaltete Gassirunden dazu führen, dass dein Hund eine veränderte Erwartungshaltung mit nach draußen nimmt. Er fragt sich nun weniger, wer in seiner Abwesenheit schon wieder ungefragt sein Revier betreten hat. Sein Blick wandert öfter zu dir, vielleicht mit der Frage: „Was machen wir beide heute zusammen?“

Sich-Lösen auf Signal
Im Alltag kann es sehr praktisch sein, wenn dein Hund gelernt hat, sich auf Signal zu lösen. Vor längeren Autofahrten, wenn er allein zu Hause bleiben muss oder beim letzten Rausgehen abends brauchst du ihn nur an die gewünschte Stelle zu führen und sein gewohntes Signal zu sagen. 
Aufgebaut wird dieses Training für alle Altersstufen wie beim Welpen:
Bringe deinen Hund an der Leine zur gewünschten, ablenkungsfreien Stelle. Wähle dafür einen Zeitpunkt, an dem er sich deiner Erfahrung nach demnächst sowieso lösen müsste. Die Leine sollte so lang gewählt sein, dass dein Hund Platz hat, einige Schritte in jede Richtung gehen zu können. Warte nun geduldig ab, ohne deinen Hund offensichtlich zu beobachten. Wenn dein Hund uriniert, sagst du währenddessen in normaler Tonlage dein Signalwort, z. B. „Pipi“. Achte darauf, dich nicht zu sehr zu freuen oder ihn sofort überschwänglich zu loben, denn sonst bricht er die erwünschte Handlung ab und kommt erwartungsvoll zu dir. Er soll nur das neue Wort hören, während er sich löst. Sobald er fertig ist, lobe deinen Hund. Er darf auch gern ein Leckerli bekommen. 
Beim Welpen kann das Signalwort auch während einer kleinen Spazierrunde beim spontanen Urinieren verwendet und verstärkt werden. Für erwachsene Hunde ist dies nicht zu empfehlen, da man sonst unter Umständen durch Aufmerksamkeit Markierverhalten fördert.

Ist Bein-Heben nur etwas für Rüden?
Sowohl Rüden als auch Hündinnen sind in der Lage, mit erhobenem Hinterbein zu urinieren. Allerdings kann man in der Regel beide Markierweisen deutlich voneinander unterscheiden. Das kann sehr gelegen kommen, wenn man selbst einen Hund hat, der mit einem der Geschlechter unverträglich ist. Hier ist es natürlich von Vorteil, wenn man fremde Hunde bereits aus der Distanz beobachten und an der Art des Markierens erkennen kann, ob es sich um ein männliches oder weibliches Tier handelt: Hündinnen gehen in die Hocke und ziehen dann ein Hinterbein nach vorn und etwas hoch. Rüden dagegen „klappen“ das Bein mehr oder weniger weit zur Seite hoch.

Imponierverhalten Scharren
Scharrt dein Hund nach dem Markieren mit den Hinterpfoten oder auch mit allen vier Pfoten am Boden? Vielleicht gibt er dabei sogar Knurrgeräusche von sich oder bellt? Dann weist er deutlich auf seinen Anspruch an diese für ihn wichtige Stelle hin. Er hinterlässt sichtbare Spuren in der Erde und zugleich seinen Eigengeruch. Eine Ansage an alle, die ihm dabei zusehen, aber auch an Hunde, die später auf diese „umgepflügte“ Stelle treffen.
Mach dir einmal bewusst, was es aus Sicht deines Hundes bedeutet, wenn du ihm geduldig dabei zusiehst oder wenn du ihn sogar noch durch Lachen und weitere Aufmerksamkeit darin bestärkst: Du stimmst ihm also darin zu, dass er sich um die bedeutenden Aufgaben des Spaziergangs kümmert, während du brav in zweiter Reihe stehst. Warum solltest du dann (wieder aus seiner Sicht) das Recht haben, ihn bei der nächsten Hundebegegnung an der Leine zurückzuhalten? Wieso sollte er sich jetzt hinten anstellen und dich die Führung übernehmen lassen? Das wäre überhaupt nicht logisch für deinen Hund.
Was ist also zu tun? Befindet sich dein Hund gerade im Freilauf und markiert und scharrt, gehst du einfach weiter und schenkst ihm keinerlei Beachtung. Hattest du deinen Hund an der kurzen Leine zum Lösen geschickt und er scharrt anschließend, dann ignoriere ihn bitte genauso und ziehe ihn sofort nach dem Urinieren sanft mit der Leine am Geschirr weiter.