Hunde im Korsett - Wo bleiben die natürlichen Bedürfnisse?
Erschienen in der Zeitschrift “Mein Hund und Ich”
Ich finde Hunde großartig! Sie bereichern unser Familienleben und sind uns treue Sozialpartner. Wir Hundehalter genießen das Zusammenleben mit ihnen. Passen Hund und Halter dabei immer perfekt zusammen? Aus meiner Erfahrung sicher nicht. Aber das ist auch gar nicht schlimm: Sich im Training „zusammenzuraufen“, die Signale des anderen richtig zu deuten und sich so auch in kleinen Nuancen kennen zu lernen, macht uns und unsere Hunde langfristig zu einem verlässlichen Team. Gemeinsam durchlebte Höhen und Tiefen können die Bindung zueinander stärken.
Manchmal kann man sich und seinem Hund aber das Zusammenleben auch (unnötig?) schwer machen. Das beginnt schon beim Kräfteverhältnis: Ein pubertierender Doggenrüde, der annähernd dasselbe Gewicht auf die Waage bringt wie sein Frauchen, wird dieser Probleme bereiten, ihn in jeder Situation halten zu können. Oder Menschen, die eigentlich „nur mal spazieren gehen möchten“, sich aber einen Retriever aus der Arbeitslinie ins Haus holen. Dieser Hund ist auf Arbeit gepolt und versucht sein Bedürfnis nach Auslastung nun in einem für ihn langweiligen Alltag zu befriedigen. Missverständnisse und Konflikte sind vorprogrammiert. Mit richtigem Training und unbedingter Konsequenz der Halter lassen sich diese nicht optimalen Voraussetzungen aber zumeist noch ausgleichen.
Welchen Preis bezahlen sowohl Hund als auch Mensch?
Richtig spannend wird es bei den ursprünglichen und eigenständigen Rassen. Zwei Worte, die schön klingen, sich aber im täglichen Zusammenleben nicht unbedingt schön anfühlen! Beispielsweise ein Herdenschutzhund, der dafür gezüchtet wurde, Tage und Wochen alleine mit seiner Schafherde in den Bergen zu verbringen und selbst entscheiden zu können, wer sich wie weit annähern darf bevor er gegen ihn vorgeht – dieser Hund ist nicht für den Garten eines Reihenhauses in der Vorstadt gemacht. Nicht, weil er zu wenig Platz hätte oder nicht mit Verkehrslärm klar käme. Sondern weil er seinem ausgeprägten Territorialverhalten auch hier folgen wird: Er wird Haus und Garten als „Seines“ ansehen und die Bewohner als seine Schützlinge. Er wird die Verantwortung übernehmen wollen, wer im Haus geduldet wird und wen er hier nicht sehen möchte. Schlussendlich wird er eine aus seiner Sicht völlig berechtigte Entscheidung treffen. Und nun ist die Familie entsetzt über ihren großen Knuddelbären, der plötzlich grundlos zum Angriff übergegangen ist…. Ein ebenso großes wie unnötiges Missverständnis, das daraus resultiert, dass Menschen ihren Hund anhand von Optik und blumigen Charakterbeschreibungen auswählen anstatt aufgrund seiner ursprünglichen Eigenschaften.
Dabei ist es egal, ob wir das Beispiel des „knuddeligen“ Herdenschutzhundes nehmen, des „süßen“ Jagdterriers, des „stolzen“ Akitas, des „mutigen“ Ridgebacks oder des „wilden“ Wolfshundes. Ich möchte jedem Hundehalter ans Herz legen, sich vor der Auswahl seines Hundes genau darüber zu informieren, wofür sein Wunschhund ursprünglich einmal gezüchtet wurde. Skepsis und Misstrauen fremden Menschen gegenüber können wir in unserem Alltag in der Regel ebenso wenig gebrauchen wie stark ausgeprägte jagdliche Verhaltensketten, d.h. Hunde, die sich selbst ernähren können und wollen und die uns dabei aufgrund ihrer absoluten Eigenständigkeit unterwegs überhaupt nicht vermissen.
In meiner alltäglichen Arbeit mit Menschen und ihren Hunden muss ich immer wieder ernsthafte Rassen in ein Korsett aus strengen Regeln pressen, damit ihre Halter einigermaßen problemlos mit ihnen leben können. Im Grunde verbieten wir diesen Hunden tagtäglich, das Verhalten zu zeigen, für das sie einmal gezüchtet wurden. Wir hindern sie jeden Tag aufs Neue, ihren natürlichen Bedürfnissen nachzugehen. Wozu holen wir uns einen Hund in unsere Familie, dem wir niemals gerecht werden können? Mehr noch: Den wir niemals wirklich glücklich machen können! Denn die Beschäftigungsalternativen, die wir ihm im Training bieten, sind eben genau das: Alternativen, die niemals seine genetisch fixierte Passion ersetzen können. Wie hoch ist der Preis, den Hund und Halter hier zahlen? Beide leben in lebenslanger Dauereinschränkung. Der Mensch, weil er sich zu 200 Prozent an die vorgegebenen Trainingsregeln halten muss. Und der Hund, weil er niemals tun darf, was seiner Natur entspricht. Und diese Natur bekommen wir durch noch so viel Training nicht geändert. Ich möchte diese beeindruckenden Tiere auch gar nicht verändern: Am liebsten sehe und bewundere ich sie dort, wo sie sich ihrer ursprünglichen Aufgabe widmen dürfen.