Ist Ihr Hund "böse"?
Erschienen in der Zeitschrift “Mein Hund und Ich”
Vielleicht kommt Ihnen eine alltägliche Situation wie diese bekannt vor:
Sie gehen mit Ihrem Hund spazieren, als Sie in einiger Entfernung einen entgegenkommenden Hund bemerken. Sie rufen Ihren Hund zu sich, leinen ihn an und gehen ein Stück vom Weg in die Wiese. Der fremde Hund nähert sich in einem federnden Trab. Er trägt seine Rute hoch erhoben, seine Ohren sind nach vorn gerichtet, und er lässt Ihren Hund nicht aus den Augen. Sie sagen Ihrem Hund ruhig „sitz“ und stellen sich demonstrativ vor ihn. Dem anderen Halter rufen Sie entgegen: „Bitte leinen Sie Ihren Hund an!“ „Meiner tut nix!“ schallt es über die Wiese. „Meiner schon!!“ rufen Sie zurück.
Inzwischen ist der fremde Hund auf einige Meter an Sie herangekommen und verlangsamt seinen Schritt. Er senkt den Kopf leicht ab und hat weiterhin nur Augen für Ihren Hund. „Arco, hier!“ herrscht der andere Hundebesitzer mehr oder weniger halbherzig, noch gut 20 Meter hinter seinem Hund. Arco denkt noch nicht mal darüber nach, zu Herrchen umzudrehen. Sie treten einen Schritt auf ihn zu und strecken ihm abwehrend eine Hand entgegen. „Leinen Sie Ihren Hund jetzt bitte an!“ Inzwischen klingt Ihre Stimme deutlich angespannt. Arco wendet seinen Blick keine Sekunde von Ihrem Hund ab und läuft in abgeduckter Haltung einen kleinen Bogen, um an Ihnen vorbei zu gelangen.
Ihr Hund, der bislang brav hinter Ihnen gesessen hat, springt knurrend auf Arco zu, so dass Sie alle Mühe haben, die Leine in der Hand zu behalten. Arco ist einen Schritt zurückgewichen, zieht nun aber die Lefzen hoch und knurrt ebenfalls. Während Sie versuchen, Ihren wie wild an der Leine zerrenden Hund, zu sich zu ziehen, entfährt Ihnen ein verärgertes „Musste das jetzt sein?“ in Richtung des anderen Halters. „Wenn Ihr Hund böse ist, kann meiner ja nichts dafür! Der will nur spielen!“ bekommen Sie zu hören. Nach dem achten oder neunten Ruf seines Herrchens, dreht Arco sich endlich um und trottet hinter ihm her.
Vielleicht hatte der andere Hundehalter ja doch recht?
Ein schlechtes Gefühl begleitet Sie auf Ihrem Weg nach Hause. Hatte der Mann nicht recht? Ihr Hund hat sich schließlich auf den anderen gestürzt. Einmal mehr hat er Aggression gegen einen Artgenossen gezeigt und Sie sind mit ihm unangenehm aufgefallen…
Aggression – ein Wort, vor dem jeder Hundehalter zurückzuschrecken scheint. „Mein Hund ist doch nicht aggressiv!“ Aber warum sollte er es in bestimmten Situationen eigentlich nicht sein? Erwachsene Hunde sind keine verspielten Welpen, die mit jedem Artgenossen über die Wiese toben wollen. Sie verfolgen ernsthafte Interessen. Es kann territoriale Gründe haben, wenn Ihr Hund einen anderen Hund nicht in seiner Nähe dulden möchte. Oder er möchte sich gegen sexuelle Konkurrenz durchsetzen. Vielleicht hat Ihr Hund auch schon schlechte Erfahrungen mit anderen Hunden machen müssen und möchte zu seiner eigenen Sicherheit lieber jeden Hund auf Abstand halten. Ist er dann „böse“?
Den eigenen Hund kennen und richtig einschätzen
Es liegt an uns Haltern, dafür zu sorgen, dass unsere Vierbeiner eine für sie angenehme Distanz zueinander einhalten können. Was für den einen Hund in Ordnung ist, muss einem anderen noch lange nicht gefallen. Um hier die richtigen Entscheidungen zu treffen, sollten wir unseren eigenen Hund zuallererst einmal einschätzen können. Dazu gehört auch, dass wir bereit sind, Charaktereigenschaften zu akzeptieren, die uns nicht zusagen, anstatt sie schön zu reden.
Das kann aber niemals ein Freifahrschein für unerwünschtes, gefährliches oder in unserer menschlichen Gesellschaft inakzeptables Verhalten sein! Kennen wir die zugrundeliegenden Motivationen unseres Hundes, beginnt das Training. Denn natürlich können wir ihm nicht erlauben, andere Hunde anzugreifen, nur weil er z.B. als territorialer Hund der Meinung ist, der Park gehöre ihm. Es gilt also, unseren Hund zu erziehen und ihm bei zu bringen, dass wir Menschen die Entscheidungen draußen treffen!
Manchmal ist ein kleiner Abstand alles, was der Hund braucht
Ein weiterer unerlässlicher Punkt ist, das Verhalten entgegenkommender Hunde richtig zu deuten. Dazu braucht jeder Hundehalter Grundkenntnisse der hündischen Körpersprache. „Der will nur spielen“ trifft eben in den allermeisten Begegnungen, übrigens auch in der oben beschriebenen, nicht zu. Arcos Herrchen hatte Unrecht in seinem pauschalen Urteil, das der komplexen Kommunikation unserer Hunde nicht gerecht werden kann. Zu guter Letzt sind Toleranz und Rücksichtnahme in unserer dicht besiedelten Gesellschaft unerlässlich und sollten auch bei uns Hundehaltern groß geschrieben werden.
Was bedeutet das nun für unser Beispiel vom Anfang? Ihr Hund war beim Anblick eines Artgenossen abrufbar – prima! Er blieb ruhig hinter Ihnen sitzen, während sich der andere näherte – wieder prima! Drei Meter Abstand wären alles gewesen, was Sie in dieser Situation gebraucht hätten. Drei Meter im Park für Sie und Ihren Hund: Das sollte für verantwortungsbewusste entgegenkommende Hundehalter machbar sein!