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Leben mit Handicap-Hunden

Das Wort „Handicap“ beschreibt laut Duden „etwas, was für jemanden, etwas eine Behinderung oder einen Nachteil bedeutet“.

Handicap-Hunde nennt man Hunde, die durch Geburt oder Unfall / Krankheit in unterschiedlichsten Varianten eingeschränkt sind. Das kann bedeuten, dass einem Hund Gliedmaßen fehlen oder er eines oder mehrerer Sinnesorgane beraubt ist. Es gibt blinde Hunde, taube Hunde und natürlich auch Kombinationen aus beidem. Hunde auf drei oder sogar nur auf zwei Beinen, mit verkümmerten Beinen, gelähmten Hinterbeinen, etc. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Bewusst an dieser Stelle nicht erwähnt und behandelt werden die Formen von Handicap, die Menschen durch Zuchtauslese bei Hunden herbeigeführt bzw. Hunden angetan haben, da diese unter die Rubrik „Qualzucht“ fallen und ein ganz eigenes Thema sind.

Ein Problem vieler Handicap-Hunde ist, dass es immer wieder zu Missverständnissen in der Kommunikation kommt. Hunde kommunizieren sehr stark über die Körpersprache und genau wie bei uns Menschen ist die visuelle Kommunikation für Hunde am wichtigsten im Alltag. Den ersten Eindruck verschaffen sich Hunde von anderen Hunden / Menschen durch körpersprachliche Signale. Hat nun einer der Kommunikationspartner ein Handicap, kann es zu Missverständnissen kommen. Beispielsweise kann ein blinder Hund sein Gegenüber nicht sehen und entsprechend auch nicht auf die von seinem Gegenüber gezeigte Körpersprache reagieren. Nähert sich der blinde Hund also z. B. dem über den abgesenkten Nasenrücken lautlos drohenden Hund unvermindert weiter an, kann dies eine Attacke auslösen, von welcher der blinde Hund dann vollkommen überrascht wird. Aber auch in der auditiven Kommunikation sind Missverständnisse vorprogrammiert: Der taube Hund nähert sich weiter dem ansonsten ruhig liegenden, aber leise knurrenden Hund an und muss daraufhin ebenfalls überrascht erfahren, dass ein Kontakt gar nicht erwünscht war. Genauso wird aber ein sich von hinten annähernder Hund vom tauben Hund erst dann bemerkt, wenn dieser direkten Kontakt über das Anal- oder Genitalwittern aufnimmt, also am Hintern des tauben Hundes schnüffelt. Überrascht von diesem unerwarteten Kontakt hat dies oft eine aggressive Reaktion des tauben Hundes zur Folge. Und auch körperlich eingeschränkte Hunde geben Anlass zu Missverständnissen. Ein Hund mit ungewohntem Gangbild oder sogar im Gestänge eines Rollstuhls ist für viele Hunde ein ungewohntes Bild, das zu starker Unsicherheit und als Folge davon oft zu aggressivem Verhalten führt.

Ein weiteres Problem ist für viele Handicap-Hunde der ganz normale Alltag. Ein Hund auf drei Beinen ist eventuell nicht ganz so mobil wie ein Hund auf vier Pfoten. Er muss lernen, sich auszubalancieren und auch auf unebenem Boden das Gleichgewicht zu halten. Ein physiotherapeutisches Training, bei welchem der Hund z. B. lernt, sich beim Laufen über Cavaletti oder über eine wackelige Luftmatratze auszubalancieren, kann hier hilfreich sein. Eine gute Bemuskelung ist dazu notwendig, dennoch verkraften sehr oft die Gelenke die deutliche Mehr-Beanspruchung irgendwann nicht mehr. Daher sollte eine Überbelastung des Hundes in jedem Fall vermieden werden. Ein Hund im Rollstuhl ist einfach schon aufgrund des Hilfsmittels eingeschränkt. Er kann nicht überall entlang laufen, kommt nicht durch jede Enge hindurch und ist im Spiel mit anderen Hunden nicht so wendig. Freilauf ist für den tauben Hund oft nur eingeschränkt möglich, da er weder den Rückruf noch eine Warnung seines Menschen hört. Der auf einmal kreuzende Radfahrer kann so schnell zur Gefahr werden. Entfernt sich der Hund zu weit von seinem Menschen, bemerkt er dies oftmals erst viel zu spät… Gerade dann, wenn der taube Hund z. B. seiner Jagdleidenschaft frönt und einem Kaninchen hinterherhetzt, kann man als Mensch kaum noch Einfluss auf den Hund nehmen. Ein Vibrationsgerät kann für solche Hunde eine enorme Hilfe sein. Sie lernen, auf das Vibrieren des Gerätes, das mit einem Halsband am Hals des Hundes befestigt wird, Blickkontakt mit ihrem Menschen aufzunehmen. Bis der Hund gelernt hat, zuverlässig auf dieses Hilfsmittel zu reagieren, darf er nur gesichert an Geschirr und Schleppleine geführt werden. Der Mensch muss zudem lernen, deutliche visuelle Signale zu geben, denn Hörzeichen, die uns Menschen erst einmal viel geläufiger sind, werden vom tauben Hund nicht wahrgenommen. Ein blinder Hund wird sich auch mal den Kopf an etwas stoßen, was er zu spät wahrgenommen hat. Es besteht die Gefahr, dass er über Stufen oder Unebenheiten stolpert. Setzt die Blindheit des Hundes erst im Alter ein, führt dies oft zu einer großen Verunsicherung, denn der Hund sieht den Weg nun nicht mehr vor sich wie zuvor. Er muss erst lernen, sich mit Hilfe seiner anderen Sinne zu orientieren. Dazu gehört, dass er sich Hindernisse merkt sowie diese aufgrund des Tast- oder Hörsinns wahrnimmt. Denn ein harter Asphaltboden führt beim Laufen zu einem anderen Geräusch als weicher Waldboden und fühlt sich auch anders an. Umgebungsgeräusche hören sich vor einer Wand ganz anders an als auf dem offenen Feld und das Sofa strahlt eher Wärme ab als ein Metalltisch. Oft übernehmen also die intakten Sinnesorgane die Funktion des fehlenden oder beschädigten Organs. Bei einem blinden Hund sind der Tastsinn und das Gehör meist besser ausgebildet. Ein tauber Hund reagiert auf visuelle Reize oft viel besser als ein Hund mit gutem Gehör. Fehlen Gliedmaßen, sind die anderen intakten Gliedmaßen stärker bemuskelt und der Gleichgewichtssinn des Hundes ist sehr gut ausgeprägt. Hier leistet die Natur also fantastische Arbeit, denn sie hat dem Hund mehr als ein Sinnesorgan gegeben und ihn auch sonst mit unglaublichen Werkzeugen ausgestattet hat, um „Fehler“ zu kompensieren.

Gerade beim Hund spielt aber auch noch ein weiterer Faktor eine entscheidende Rolle: Die Fähigkeit der Verbindung zu anderen Artgenossen bzw. Sozialpartnern. Handicap-Hunde sind genauso wie Hunde ohne Einschränkungen soziale Lebewesen. Hunde leben im Sozialverband, häufig sogar in einem Familienverband, sie sind keine Einzelgänger. In einem solchen Verband hat jeder Hund seinen Platz und dementsprechend seine Aufgaben. Allein würde ein dreibeiniger Hund wohl verhungern, denn eine Jagd auf schnelle Beute ist für ihn kaum möglich. Dieser Hund ist aber nun vielleicht ein sehr wacher Beobachter und guter Spurenleser. Bei der gemeinsamen Jagd stöbert er also z. B. die Beute auf, die dann von den  anderen Hunden zur Strecke gebracht wird. Gemeinsam wird dann der Jagderfolg gefeiert und die Beute geteilt. So erfüllen alle Hunde jeweils wichtige Aufgaben bei der Jagd, obwohl ein Gruppen- oder Familienmitglied gehandicapt ist.

Der Mensch an der Seite eines Hundes, der ein Handicap hat, muss dementsprechend ein Partner für seinen Hund sein und ihm bei der Bewältigung des Alltags helfen. Dies beginnt beim Einsatz besonderer Hilfsmittel, wie es sie heutzutage in unendlichen Variationen gibt, angefangen vom bereits beschriebenen Vibrationsgerät für taube Hunde, aber auch Rollstühle, Rampen und Aufzüge sind heute im Hundebereich keine Seltenheit mehr, machen viel Sinn und sind auch erschwinglich geworden. Doch viel wichtiger ist es noch, im Umgang mit dem Hund vorausschauend zu handeln und dem Hund als Partner bei der Bewältigung des Alltags zu helfen.

Ich hatte selber einen blinden Hund, von dem ich sehr viel lernen durfte. Mein Neufundländer Rüde Elliot war nicht von Geburt an blind, sondern verlor sein Augenlicht mit ca. 6 Monaten. Das hatte bei ihm zur Folge, dass er erst einmal sehr desorientiert war, denn seine ganze Umwelt hatte sich mit einmal verändert. Und natürlich mussten wir als seine Familie (also sowohl wir Menschen als auch die anderen Hunde) erst mal einen Weg finden, um mit der veränderten Situation klar zu kommen. Nun kann man dem Menschen erklären, dass der Hund jetzt blind ist und man mit ihm etwas anders umgehen muss als mit dem vorher sehenden Hund. Den anderen Hunden in der Familie diese Veränderung zu „erklären“ stellt da schon eine ganz andere Aufgabe dar. Daher haben wir alle eine Zeit der Umstellung gebraucht. Die anderen Hunde haben schnell einen sehr natürlichen Weg gefunden, den blinden Elliot zu unterstützen oder ihm seine Grenzen zu zeigen. Beispielsweise haben meine anderen Hunde während eines Rennspiels, wenn Elliot kurz desorientiert war und seine Freunde gerade nicht orten konnte, einfach laut geschnaubt. Das hörte sich an wie ein Niesen und hatte den Effekt, dass Elliot sofort wieder wusste, wo das Spiel weiter ging. Wenn während des gleichen Rennspiels ein Hindernis im Weg war, wie z. B. ein Baum, dann wurde Elliot rechtzeitig über Körperkontakt vermittelt, dass es hier ein Hindernis gibt. Entweder blieb der von Elliot Gejagte einfach für einen kurzen Moment stehen und nahm in Kauf, dass es zum Zusammenstoß kam oder er gab Elliot einen Schubser in die richtige Richtung, sodass dieser am Hindernis vorbeilief. Das passierte mit recht hoher Präzision, gerade so, als hätte der gejagte Hund vorausberechnet, wo der Weg von Elliot beim Jagdspiel entlang verlaufen würde. Auf jeden Fall mit viel zu hoher Präzision, um Zufall zu sein. Mein älterer Rüde, der Körperkontakt mit Elliot vermeiden wollte (Stichwort „Individualdistanz“), benutzte Lautäußerungen wie Knurren in so abgeschwächter Form, dass sie tatsächlich als Warnung zu verstehen waren, ohne schon eine Drohung zu sein. Die Botschaft „Achtung, da liege ich!“ wurde verstanden und es kam zu keiner Distanzunterschreitung durch Elliot und damit auch nicht zum Konflikt. Fand Elliot für sich mal keinen Ausweg aus einer Situation, bellte er kurz, sodass ich ihm zu Hilfe kommen konnte. Denn Elliot konnte sich darauf verlassen, dass ich ihn aus jeder Situation sicher herausführen würde.
Der Mensch kann einem blinden Hund durch viele Maßnahmen das Leben erleichtern. Dazu gehört auch eine vertraute Umgebung, wie z. B. eine Wohnung, in welcher nicht ständig alle Möbel umgestellt werden. Das Mobiliar in unserer Wohnung und die damit verbundenen Laufwege waren Elliot sehr schnell geläufig. Elliot konnte manchmal sehr stürmisch sein, bewegte sich hier aber mit wirklich erstaunlicher Genauigkeit um Tisch und Stühle herum. Wenn wir doch einmal ein Möbelstück umgestellt haben, wurde Elliot von uns an der Leine zu diesem Möbelstück geführt und wir haben einmal mit der Hand dagegen geklopft, sodass Elliot die Karte der Laufwege neu abspeichern konnte. Doch nicht immer haben wir unterstützend eingegriffen, um Elliot zu beschützen. Wenn Elliot z. B. bei Leckerchen-Suchspielen im Haus mit der Nase gegen einen Tisch gestoßen ist, haben wir das so geschehen lassen. Natürlich durfte er sich dabei nicht wirklich verletzen, jedoch gehörte für uns zum Leben mit einem blinden Hund dazu, dass dieser sich ab und an in vertrauter Umgebung auch einmal an etwas stößt. Elliot lernte so, dass ein solcher Zusammenstoß kein großes Drama war und ging dadurch viel selbstbewusster mit solchen Vorfällen um. Er wurde generell viel selbstbewusster, je mehr er lernte, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Dieses Selbstbewusstsein konnten wir noch durch gezieltes Training und Förderung seiner anderen Sinnesorgane verstärken.
Da Elliot sichtlich Spaß an Nasenarbeit hatte, haben wir irgendwann das Mantrailing für uns als Form der artgerechten Auslastung entdeckt. Das Fokussieren mit der Nase auf eine Spur hatte erst einmal zur Folge, dass Elliot beim Trailen vermehrt Hindernisse ignorierte und gegen alle möglichen Dinge stieß. Nach und nach haben wir gemeinsam unterschiedliche Sprachsignale trainiert, die ihm quasi seinen Weg geebnet haben. Ich wurde immer mehr zu seinem Paar Augen, die er nicht hatte. So gab es z. B. das Signal für „Achtung, Hindernis! Da kommst du aber drüber.“ Hierbei streckte er ein Bein nach vorne aus wie einen Fühler und ertastete sich die Stufe, die vor ihm lag. Es gab auch das Signal „Achtung, Hindernis! Da kommst du nicht drüber.“ In diesem Fall suchte er einen Weg um das Hindernis herum. Treppen, Bäume, quer liegende Baumstämme, stehende Autos, kreuzende Straßen: Für alles gab es ein separates Hörzeichen. Eine wunderschöne Zusammenarbeit entstand hier, wir hatten viele magische Momente zusammen, in denen er konzentriert arbeitete und ich ihn unterstützte, wo es nötig war. Elliot war bis in hohe Alter ein selbstbewusster und fröhlicher Hund.

Manchmal ist der Aufbau von etwas mehr Selbstbewusstsein schon alles, was ein Handicap-Hund braucht. Wir Menschen können unserem Sozialpartner Hund zeigen, was er alles leisten kann. Doch oftmals ist dies gar nicht notwendig. Was diese Tiere meist gemeinsam haben, ist der ungebrochene Lebenswille. Sie leben im Hier und Jetzt, akzeptieren ihren Zustand klaglos. Blicken nach vorne, anstatt zurück. Meist kann man beobachten, dass die Hunde einen guten Weg gefunden haben, mit ihrem Handicap zu leben und in der Regel sogar sehr gut damit zurechtkommen.

Oftmals sind es daher vielmehr die Menschen, die lernen müssen, mit der Einschränkung ihres Hundes zu leben. Wir Menschen müssen lernen, dass Handicap-Hunde immer noch Hunde sind, mit den gleichen Bedürfnissen wie „normale“ Hunde. Als Coach in meiner Martin Rütter DOGS Hundeschule in Karlsruhe habe ich Menschen mit Handicap-Hunden kennengelernt, die selber ein Problem mit der Behinderung ihres Sozialpartners hatten. So fehlte einem Hund ein Ohr und Frauchen war es sichtlich unangenehm, einen „nicht kompletten“ Hund zu haben. Im Trainingsverlauf wurde Frauchen dann immer mehr bewusst, dass dieser Zustand den Hund überhaupt nicht gestört hat. Dass fremde Hunde bei der ersten Kontaktaufnahme mit der einohrigen Hündin etwas länger brauchten, um deren Körpersprache komplett zu verstehen, war nie ein Problem, weil Frauchen im Training gelernt hatte, für diese „Mehr-Zeit“ zu sorgen. Zwar ist die Ohrstellung bei Hunden ein wichtiger Bestandteil der sehr komplexen Kommunikation unter Artgenossen. Doch fehlt ein Ohr, so ist der Rest des Hundes ja dennoch durchaus im Stande, zu kommunizieren. Oder andersrum gesprochen: Ein Hund kommuniziert nicht alleine durch die Bewegung mit einem Ohr! Die Hündin konnte sich also durch ihre Rutenhaltung, durch die Haltung des Körpers, durch Lautäußerungen und viele andere Kommunikationsmöglichkeiten anderen Hunden verständlich machen.

Das Zusammenleben mit einem Handicap-Hund kann daher genauso bereichernd sein wie das Zusammenleben mit einem Hund ohne Handicap. Die Erziehung verläuft unter Umständen in etwas anderen und auf den jeweiligen Hund angepassten Bahnen, aber das gehört sowieso zum Konzept von Martin Rütter DOGS: Kein 0815-Schema, das für jeden Hund gleich ist, sondern ein Trainingskonzept, das individuell auf jedes Mensch-Hund-Team angepasst ist. Da spielt es letztlich keine Rolle, ob der Hund blind, taub oder körperlich versehrt ist, ob es sich um einen Hund mit großer Angst oder ausgeprägtem aggressiven Verhalten handelt oder einfach nur bestimmte Bedürfnisse des Hundes wie z. B. starkes Jagdverhalten im Vordergrund des Trainings stehen. Wir finden einen Weg für jedes Mensch-Hund-Team!