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Aggression - gut oder schlecht?

Sehr gerne versuche ich bei hündischen Handlungen von diesen weg einen Blick auf das Verhalten von Menschen und unsere gesellschaftlichen Regeln zu werfen. Stell dir also vor, du gehst einfach still einer Straße entlang und wirst plötzlich von einem anderen Menschen angepöbelt und körperlich attackiert. Du hast nun vier Möglichkeiten darauf zu reagieren, die 4F:

  • fight – kämpfen, sich stark machen, sich entgegenstellen, jemandem die Meinung sagen 
  • flight – davonlaufen, Rückzug, Flucht 
  • freeze – totstellen, abwarten 
  • flirt/fiddle/fawn – herumalbern, aufgeregtes Verhalten, nachgeben

 

Je nach Persönlichkeit und Situation kann es sein, dass ein bestimmter Mensch sich in der einen Situation für Kampf entscheidet, wohingegen derselbe Mensch in einer anderen Situation lieber flüchtet. Ich glaube, wir alle können uns dazu die unterschiedlichsten Situationen vorstellen.

Was uns wohl allen gemein ist, dass wir Flucht, totstellen und nachgeben nicht als aggressive Handlung werten würden. Anders sieht es da aus, wenn sich der Verteidiger für Kampf entscheidet. Schnell würde auch beim Pazifisten die Antwort kommen, dass es sich doch um bloße Notwehr handle. Und tatsächlich sieht unser Strafgesetzbuch diese auch als legitime Anwendung von Aggression vor, sofern diese verhältnismäßig ist. Es gibt also so etwas wie eine tolerierbare Aggression und eine nicht mehr tolerierbare Aggression.

Kaum ein Zweifel besteht, dass der pöbelnde, attackierende Angreifer eine nicht tolerierbare Aggression als Handlung setzt. Doch ist das wirklich hundert Prozent sicher? Wenn es zwischen dem Angreifer und den Verteidiger eine gewisse Vorgeschichte gibt, müsste man etwaig die Situation anders betrachten, doch gehen wir im vorliegenden Fall einfacherweise davon aus, dass die beiden keine Vorgeschichte haben und der Angegriffene auch keinerlei provokative Handlungen setzt.

Übertragen wir die Situation auf unsere Hunde: Ein Hund läuft gemütlich auf einer Wiese dahin und ohne groß auf seine Umgebung zu achten ist er mit intensiven Gerüchen auf den Grashalmen beschäftigt. Ein anderer Hund kommt dahergelaufen, sieht den schnüffelnden Hund, läuft hin und beißt ihn in die Seite. Wäre es nun für den „Schnüffler“ opportun zurückzubeißen? Was meinst du?

Die Toleranz für die Anwendung von aggressiven Handlungen scheint diesfalls also etwas mit der Kausalität und mit der Verhältnismäßigkeit zu tun zu haben, genauso wie zuvor im Menschenbeispiel. Wir unterscheiden dadurch zwischen „guter“ und „schlechter“ Aggressivität.

Doch wie sieht es aus, wenn es keinen Angreifer gibt? Wie nahe darf sich beispielsweise ein Mann einer Frau auf einem einsamen dunklen Straßenabschnitt zufällig in gleicher Richtung fortbewegend nähern? Mit etwas Empathie des Mannes hält dieser vielleicht größeren Abstand um die Frau nicht unnötig zu ängstigen, doch was, wenn nicht? Ab wann wäre es zulässig, dass die Frau sich umdreht und den Mann anschreit? Bei 50 Meter Abstand? Bei 5 Meter? Bei einem Meter? Das wird wohl jede Frau situativ für sich entscheiden müssen. Strafbar wäre es zwar nicht, doch je weiter der Mann entfernt ist, desto mehr Kopfschütteln wird eine aggressive Handlung wie Anschreien erzeugen. Doch ist es eigentlich bloß ein Zeichen der eventuell sogar nachvollziehbaren Unsicherheit. Es macht jedoch einen Unterschied, wenn die Frau meint, die Straße sei allein für sie da und für sonst niemand.

Und wenn wir uns dazu unsere Hunde ansehen: Da gibt es so manchen, der bellt schon von Weitem andere Hunde an. Auch hier kann Unsicherheit vorliegen: Lieber als erster Pöbeln als zu spät und dann unter die Räder zu kommen. Unsicherheit wird jedoch nicht durch eine Ohrfeige in Sicherheit verwandelt, sondern durch vertrauensvolle Beziehungen.

Ein wirklich sicherer, souveräner Hund weicht Streitigkeiten, die nichts bringen, aus, zögert aber auch nicht sich einer Situation zu stellen, wenn es unbedingt erforderlich ist.

Wenn eine souveräne Mutterhündin von ihren mehrere Wochen alten Welpen drangsaliert wird, wird sie sich durch eine aggressive Handlung vom Verhalten ihrer Welpen klar abgrenzen. Nur so werden die Welpen so sozialen Lebewesen, die die Grenzen anderer respektieren. Wo die Grenzen des anderen jeweils liegen, ist individuell, doch ist es uns durch Achtsamkeit und Einfühlsamkeit möglich, diese in einem gewissen Rahmen zu erspüren.

So wie es nur wenige souveräne Menschenpersönlichkeiten gibt, ist es auch bei Hunden: Souveränität ist die Ausnahme und nicht die Regel.

Ein weiteres Beispiel für nachvollziehbare, verständliche Aggressivität können Schmerzen sein. Die Schmerzen mögen vielleicht grundsätzlich nicht wahrnehmbar sein und nur bei Berührung akut werden. Es ist also auch Behutsamkeit mit dem Gegenüber erforderlich.

Ich zähle hier nicht alle Gründe für Aggressivität auf, sondern möchte zeigen, dass es verschiedene Ursachen geben kann, die Aggressivität verständlich machen können und in wenigen Einzelfällen sogar tolerierbar.

Hunde müssen also so einiges an Sozialverhalten draufhaben und auch beim Hund beginnt vieles in der Kindheit. Mancherlei Aggressionsverhalten können wir uns erklären und auf Vorerfahrungen zurückführen oder aber darauf, dass der Hund keinerlei diesbezügliche Erfahrungen machen konnte. Die Vorerfahrungen führen jedoch lediglich zu einem Verständnis, nicht zu einer Tolerierung jedes aggressiven Verhaltens.

Die eigene Teilhabe am ‚von anderen gemobbt werden‘, ist die Unfähigkeit zur rechtzeitigen alltägliche Grenzsetzung und kann im ungünstigsten Fall zu einer explosionsartigen und völlig inadäquaten Entladung von Aggression führen, wie wir aus den Schlagzeilen über Amokläufe manchmal lesen. Insofern kann eine Aggressionsabgabe in adäquaten Dosen durchaus als Teil einer gelungenen Salutogenese gesehen werden, denn auch Knurren ist eine aggressive Handlung und damit auch Kommunikation, dass der Hund jetzt lieber nicht möchte, dass der andere Hund näherkommt. Erweist der andere Hund diesen Respekt, ist damit auch schon wieder das Ende der Aggressionshandlung erreicht.

 

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