An der Leine flippt er aus – warum?
Neulich im Schweriner Schlossgarten. Es ist Sonntagmorgen. Viele Menschen gehen mit ihren Hunden spazieren – an der Leine, versteht sich, denn hier herrscht Leinenpflicht. Einige der Menschen kennen sich schon, oder sagen wir besser, sie kennen die Macken der anderen Hunde. Kennen Sie das auch? Wenn die Hunde im Freilauf sind, sind sie verspielt und freundlich. Kaum sind sie an der Leine, werden sie zu wahren „Bestien“. Was steckt hinter diesem Verhalten?
Wieso kommt es häufig zu diesem Aggressionsverhalten, wenn Hunde angeleint sind? Beginnen wir erst einmal mit dem Begriff Aggression. Eigentlich gehört aggressives Verhalten zur normalen Kommunikation bei Hunden. Der Sinn von Aggressionsverhalten im Allgemeinen wird von der renommierten Ethologin Dr. Dorit Feddersen-Petersen als „Mittel zur Distanzvergrößerung“ beschrieben. Unsere Hunde werden nun aber an der Leine geführt – eine aus Hundesicht unnatürliche und lästige Einschränkung. Die Vierbeiner müssen da aber durch, da es oft in den Innenstädten oder auch in Wäldern ohne Leine heutzutage nicht geht. Normalerweise könnten sie sich bei einer Begegnung einfach aus dem Weg gehen und somit die gewünschte Distanz zum anderen Artgenossen erreichen. Angeleint ist das aufgrund der kurzen Leine für unsere Hunde aber oft einfach nicht machbar. Im Gegenteil. Aus Hundesicht: „Der andere Hund kommt frontal auf mich zu, und ich kann nicht weg! Da bleibt dann nur noch ein Ausweg – der Angriff!“
Warum Hunde Distanz zum Artgenossen schaffen möchten, kann viele verschiedene Gründe haben. Schauen wir uns doch einfach einmal ein paar Beispiele an, die man an diesem Sonntagmorgen im Schlossgarten beobachten konnte.
Claudia ist mit ihrem Golden Retriever Leo unterwegs.
Claudias Hund wird aggressiv an der Leine, wenn er andere Rüden trifft, die wie Leo unkastriert sind. Leo ist sexuell motiviert, er möchte gleichgeschlechtliche Artgenossen vertreiben. Ein solches Verhalten kann übrigens bei Rüde und Hündin gleichermaßen vorkommen! Leo kann es also einfach nicht leiden, dass sich Konkurrenten in seiner Nähe aufhalten. Gerne würde er sich mit seinem Gegenüber messen. Im Freilauf würde Leo seinem „Gegner“ z. B. durch Markierverhalten (in Form von Urinieren oder Koten, oft auch kombiniert mit Scharren und Knurren) zeigen, dass er derjenige ist, der in diesem Revier Ansprüche erhebt. Oft schleicht er sich dann an den anderen Hund an, legt sich hin und fixiert diesen. Das ist Aggressionsverhalten! Manchmal zeigt er aber auch durch sehr imponierendes Verhalten, wie Aufstampfen mit den Vorderpfoten, insgesamt sehr steifer Körperhaltung und sehr erhobener Rute, dem Gegenüber, wer hier der Platzhirsch ist. Durch die Leine wird Leo nun aber daran gehindert, diese Verhaltensweisen zu zeigen. Der Frust, der sich daraus ergibt, lässt Leo durchdrehen. Oftmals haben sexuell motivierte Hunde also gar nicht die ernsthafte Absicht, ihren Artgenossen zu schreddern!
Sebastian und Rhodesian-Ridgeback-Hündin Stella sind auch oft im Schlossgarten anzutreffen.
Kommen Stella im Schlossgarten Hunde entgegen, kann die sonst eigentlich freundliche Hündin sehr ungemütlich werden. Stella ist territorial motiviert. Sie kann es einfach nicht leiden, wenn sich in „ihrem“ Park andere Hunde aufhalten. Ganz schlimm ist es für die Hündin, wenn sich die anderen Hunde, z. B. im Spiel, zu schnell bewegen. Sebastian denkt dann immer, dass sie gerne mitspielen will. Es geht ihr aber lediglich darum, die Dynamik der anderen Hunde sofort zu unterbinden – da diese so dann wiederum viel besser kontrollierbar sind. Durch die Leine kann Stella nun nicht zu den anderen Hunden laufen, um diese zu kontrollieren bzw. zu ruhigem Verhalten zu bringen. Wie beim Golden Retriever Leo führt dies dazu, dass Stella aus lauter Frust aggressives Verhalten an der Leine zeigt: Sobald sie andere Hunde nur erblickt, springt sie mit voller Kraft in die Leine und bellt und knurrt den anderen Hund an. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Rüden oder eine Hündin handelt! Jeder Hund muss aus Stellas Sicht von ihr kontrolliert werden! Ein sehr großer Teil der Hunde zeigt das unerwünschte Verhalten an der Leine aus territorialer Aggression. Hier geht es also darum, den Bereich, in dem sie sich gerade befinden, zu verteidigen. Eindringlinge sind dann einfach unerwünscht und müssen mindestens kontrolliert, besser noch vertrieben werden. Die Größe eines Territoriums kann dabei völlig unterschiedlich sein. Bei manchen Hunden ist es nur die „eigene“ Straße, bei einigen der Schlossgarten, bei anderen auch die ganze Welt. Dass Hunde diese Aggressionsform oft nur an der Leine zeigen, hat sehr häufig damit zu tun, dass sie ohne Leine alles bestens kontrollieren und abchecken können. Ist der „Eindringling“ einmal kontrolliert, gibt es oft die Erlaubnis zum Weiterlaufen. Das ist übrigens der Grund, warum viele Menschen genau jetzt rufen: „Der will nur spielen!“ Meistens steckt beim Hund zwar tatsächlich keine Beschädigungsabsicht dahinter, wenn sie geradewegs auf den anderen Hund zulaufen, sondern „nur“ das dringende Bedürfnis zu kontrollieren. Der Mensch denkt dennoch oft zu banal. „Nur spielen“ will der Hund nämlich mit Sicherheit nicht. Hängt der Kontrolletti nun aber an der Leine, dreht er gern hoch, weil er frustriert ist und nicht abchecken gehen kann.
Auch Martina und Labrador-Retriever-Rüde Theo gehen heute wieder ihre Tour.
Natürlich hat Martina sich mit Leckerchen und dem Lieblingsball von Theo bewaffnet. Kommen nun aber andere Hunde in die Richtung von Martina, Futter und Ball ist Theo davon gar nicht begeistert, er bellt und regt sich ohne Ende auf. Oft reicht es dabei schon, wenn Martina den Ball oder die guten Leckerlis nur in der Jacke eingesteckt hat, sie muss Futter oder Ball gar nicht mal sichtbar in der Hand halten. Kommt ein Artgenosse nun zu nah, gilt es, deutlich zu zeigen, dass dieser lieber wieder gehen sollte. Theo lässt den anderen mit einer selbstdarstellenden Körpersprache wissen, dass es sich um sein Futter und Spielzeug handelt.
Sehr viele Hunde zeigen Aggressionsverhalten an der Leine also aufgrund der Verteidigung von Ressourcen. Je nach individueller Vorliebe kann es sich bei den Ressourcen um Futter, also die mitgenommenen Leckerchen oder z. B. auch die häufig im Training verwendete Futtertube handeln, oder aber um Apportierspielzeug wie Bälle, Dummys, Frisbee etc. Sehr häufig stellt sich der Hund dabei auch zwischen das Objekt der Begierde und den Konkurrenten, er steht somit also demonstrativ vor seinem Menschen.
Lilly, eine Malteserhündin, hat sich mit Schleife im Haar und Frauchen Silke auf den Weg gemacht.
Silke liebt ihre zwei Jahre alte Hündin abgöttisch. Sie tut alles für ihren kleinen Liebling. Wenn Lilly mit ihrem kleinen Ball angelaufen kommt, spielt Silke natürlich immer mit ihr. Sie weiß auch genau, wann Lilly Hunger hat, denn Lilly kommt dann immer angelaufen und stupst Silke an der Hand an. Dann wird es Zeit für ein Leckerchen oder die tägliche Futterportion. In der Wohnung ist Lilly wirklich „der liebste Hund der Welt – aber draußen ...“. Wenn Silke andere Hunde oder Menschen zu nahe kommen, kann Lilly sich zur kleinen Bestie entwickeln. Sie springt dann hoch und versucht sofort, in Richtung des anderen Hundes oder auch Menschen zu schnappen. Dieses Verhalten zeigt sie vor allem an der Leine, im Freilauf ist Lilly nämlich gerne auch einmal im Gebüsch unterwegs und verfolgt ausdauernd Spuren oder frisst Hasenköttel.
Häufig ist die zu verteidigende Ressource also auch der Mensch selbst. Verhält sich dieser im Alltag nicht als souveräne Führungskraft, wird er in für den Hund scheinbar brisanten Begegnungen gern von diesem beschützt. Zeigt sich der Mensch also z. B. häufig inkonsequent und lässt sich vom Hund mehr oder weniger ständig beeinflussen, so hat dieser leider oft das Gefühl, auf das Frauchen bzw. Herrchen auch noch aufpassen zu müssen. Dies zeigt sich deutlich, wenn das Verhalten z. B. nur beim Spaziergang mit einer bestimmten Person in der Familie auftritt oder der Hund das Getöse an der Leine sofort beendet, wenn sich der Halter von ihm entfernt. Im Freilauf fühlt sich der Hund dagegen oft nicht für den Menschen verantwortlich, hier gibt es offensichtlich wichtigere Dinge, denen man nachgehen muss. Dazu gehört etwa auch das wilde Spiel mit anderen Artgenossen. Denn im Freilauf ist Lilly sehr wohl gut verträglich mit anderen Hunden. Und so lässt Silke wie selbstverständlich die kleine Lilly im Park von der Leine und zu jedem Hund laufen, um ihn zu begrüßen und mit ihm zu spielen. Will Lilly dies nun beispielsweise in der Innenstadt auch, wird sie durch ihre Leine daran gehindert. Das erzeugt Frust, der sich bei ihr in heftigem, von Silke unerwünschtem Gekläffe äußert.
Wir sehen also, dass auch hier, wie so oft, die Ursache am anderen Ende der Leine liegt, auch wenn es erst einmal gar nicht so aussieht. Ist ein Verhalten immer erlaubt, wird ein Hund nicht verstehen, dass es in einer anderen Situation auf einmal nicht mehr erlaubt sein soll. Dass ein Freilauf in der Stadt mit starkem Autoverkehr nicht möglich ist, versteht ein Hund nicht!
Und dann ist da noch Pepe mit seinen Menschen Renate und Heinz.
Pepe ist ein Mischling, 5 Monate alt und kommt aus dem Tierschutz. Er hat in seinem jungen Leben bereits viele schlechte Erfahrungen gemacht. Der Mischlingsrüde hat teilweise panische Angst, wenn er andere Hunde trifft, und kann schon mal die Zähne zeigen, wenn er anderen Hunden nicht ausweichen kann, da er angeleint ist.
Sehr viele Hunde zeigen Aggressionsverhalten an der Leine aus Angst oder Unsicherheit. Die Leine nimmt ihnen dabei die Möglichkeit, uneingeschränkte Kommunikation auszuleben, und so verteidigen sie sich lieber schon im Vorhinein. Einige Hunde haben an der Leine mit anderen Hunden auch eine negative Erfahrung gemacht und generalisieren diese Erfahrung auf sämtliche andere Vierbeiner, oder eben auch nur auf jene, die dem damaligen Angreifer ähneln. Auch aus diesem Grunde ist es wichtig, dass gerade im Welpenalter Hunde möglichst viele positive Hundeerfahrungen machen. Diese sollten aber kontrolliert stattfinden, damit die Begegnung wirklich auch positiv verläuft. Hunde müssen also ganz sicher Sozialkontakte haben, aber nicht mit allen Hunden und vor allem nicht, wenn die Hunde angeleint sind und sich nicht kennen und gut einschätzen können!
Problematisch ist oft auch, dass es sich bei aggressivem Verhalten an der Leine um einen Mix verschiedener Ursachen handeln kann. Es kann auch sein, dass das Verhalten gar nicht mehr gegenüber der eigentlichen Sache gezeigt wird, sondern schlichtweg ritualisiert ist, da ein Hund das Aggressionsverhalten z. B. über lange Zeiträume hinweg ausleben konnte. Da geht es dann unter Umständen nicht mehr darum, den Feind nicht im Territorium haben zu wollen, sondern um das Ausleben eines abgespeicherten Verhaltensmusters: ARTGENOSSE? – der muss verbellt werden!
Viele Gründe, viele Therapien
Wie man sieht, gibt es einige Gründe, aus denen ein Hund aggressives Verhalten an der Leine zeigen kann. Um ein erfolgreiches Training aufbauen zu können, muss in einem ersten Schritt also zunächst einmal die Ursache für das aggressive Verhalten herausgefunden werden. Je nach Ursache müssen dann unterschiedliche strukturelle Veränderungen im Alltag vorgenommen werden. Einige Hunde müssen durch ein sogenanntes Impulskontrolltraining lernen, sich zu beherrschen und somit Frust auszuhalten. Unsichere Hunde müssen lernen, sich sicher zu fühlen und ihrem Menschen zu vertrauen. Der Aufbau eines solchen Trainings ist sehr umfangreich und sprengt an dieser Stelle leider den Rahmen des Artikels. Leider wird es daher nun keine ausführliche Anleitung für das Training bei Aggressionsverhalten an der Leine geben, da erst einmal ganz wichtig ist festzustellen, woher das Verhalten rührt. Dies kann meist nur ein erfahrener, professioneller Hundetrainer richtig beurteilen, indem er Mensch und Hund im gemeinsamen Umgang miteinander und in verschiedenen Situationen im Alltag sowie in der Problemsituation beobachtet. Im nächsten Schritt wird dann ein auf diese Ursachen sowie das Mensch-Hund-Team abgestimmter Trainingsplan entwickelt, um das Verhalten zu verändern.
Ein ganz wichtiger Punkt bei dieser Problematik ist auch, dass der Hund lernt, dem Menschen an lockerer Leine zu folgen und auf ihn zu achten. Trainiere daher außerhalb der Problemsituationen die Leinenführigkeit mit Deinem Hund. Folgt Dein Hund Dir in entspannten Situationen an lockerer Leine, kannst Du langsam Ablenkungen, z. B. durch andere Hunde, einbauen. Beginne mit einem Hund in weiter Distanz, der sich ruhig verhält. Verringere dann die Distanz immer mehr, bis Dein Hund an einem ruhig sitzenden oder liegenden Hund vorbeilaufen kann. Erst dann darf sich auch der andere Hund bewegen. Starte mit einer ruhigen Begegnung, bevor sich der andere Hund später einmal auch richtig dynamisch bewegen kann. Jedes Mal, wenn Dein Hund aufmerksam und ohne aggressives Verhalten an lockerer Leine mit Dir am anderen Hund vorbeigelaufen ist, bekommt er natürlich eine besonders tolle Belohnung!
Das musst Du beachten
Die Erste-Hilfe-Maßnahmen sollen Dir helfen, Deinen Hund in den brisanten Situationen möglichst entspannt an der Leine führen zu können.
Der erste Schritt im Training ist immer: Fehlverhalten darf nicht weiter ausgelebt werden, wenn Du daran arbeitest.
• Bei frontaler Begegnung mit genügend Platz einen weitläufigen Bogen um den anderen Hund gehen. Bei unerwünschter Begegnung entspannt abwenden oder die Richtung wechseln.
• Entschärfen der Begegnung, indem der eigene Hund immer an der abgewandten Seite zum anderen Hund geführt wird. Der Mensch geht als Puffer dazwischen!
• Ist Dein Hund versessen auf ein bestimmtes Spielzeug oder ein besonderes Leckerli, darfst Du ihn in dieser Phase noch damit ablenken, um ohne Krawall aus der Begegnung zu kommen. Aber Achtung: Unerwünschtes Verhalten darf hier nicht belohnt werden. Das richtige Timing ist ganz wichtig!
• Wenn es möglich ist, baue für Deinen Hund eine Alternative zum aggressiven Verhalten auf. Dies kann ein kleines Suchspiel, aber auch ein einfaches „Sitz“ neben oder hinter Dir sein. Ist Beute nicht das Problem, kannst Du Deinen Hund auch einen Apportiergegenstand tragen lassen. Alternativ bietet sich auch das Signal „Schau“ an, bei dem Dein Hund lernt, Augenkontakt zu Dir zu halten.
• Konntest Du mit diesen Maßnahmen an einer prekären Situation vorbeigehen, ohne dass Dein Hund Aggressionsverhalten gezeigt hat, belohne ihn auf jeden Fall ausgiebig dafür.
Artikel meines Kollegen Sven Kunkel (<link schwerin>Martin Rütter DOGS Schwerin) für die Zeitschrift "Mein Hund und Ich"