Wie viele Regeln braucht ein Hund wirklich?
Die schlechte Nachricht vorweg: Ganz ohne Regeln kommt man nicht aus! Sehr oft höre ich von meinen Kunden in der ersten Trainingsstunde: "Mein Hund muss nicht viel können! Er muss keine Prüfungen ablegen und nicht dreihundert verschiedene Kunststücke beherrschen. Er darf bei mir vollkommen Hund sein." Aber: "Er soll nicht ständig alle Menschen anspringen, er soll nicht auf den Tisch springen, wenn wir etwas Essbares darauf stehen lassen, er soll nicht an der Leine ziehen wie ein Zugpferd und vor allem soll er zurückkommen, wenn ich ihn rufe." Diese Aussage ist allerdings ein Widerspruch in sich. Denn für den Aufbau einer guten Beziehung, in der sich der Hund am Menschen orientiert und in welcher er die gesellschaftlichen Normen des Menschen akzeptiert, muss es klare Regeln und Strukturen geben.
Zusammenleben und Sozialstruktur
Hunde sind die einzigen Lebewesen, die den Menschen, obwohl er artfremd ist, als vollwertigen Sozialpartner anerkennen. Dies liegt daran, dass sich Mensch und Hund hinsichtlich der Struktur und dem Zusammenleben im Familienverband sehr ähnlich sind. In einer Familie gibt es eine klare Rollenverteilung, verbunden mit den jeweiligen Aufgaben, die eindeutig aufzeigen, wo man seinen Platz hat. Eltern versorgen ihre Kinder, indem sie sich um die Mahlzeiten kümmern. Sie wissen, wo Gefahren drohen, egal ob es sich dabei um den Straßenverkehr oder den heißen Herd handelt, und beschützen ihre Kinder vor Schaden, indem sie diese davor warnen bzw. sie lehren, sicher durchs Leben zu kommen. Dazu gehört auch, dass Eltern ihren Kindern Regeln und Strukturen vorgeben, wodurch diese wissen, was erwünscht ist und was man besser unterlassen sollte. Ein klares Regelpaket vermittelt Kindern somit Orientierung und zeigt Grenzen auf, welche Sicherheit geben. Und genauso leben auch Hunde im Rudel in ihrem Familienverband, in welchem die Elterntiere die wichtigen Entscheidungen treffen, sich um Nahrungsbeschaffung und Verteidigung kümmern, und damit das Rudel souverän lenken und leiten. Lebt der Hund nun bei uns in der Familie, müssen wir Menschen bei unseren Hunden die Elternrolle übernehmen, und das ein Hundeleben lang. Denn im Gegensatz zum Hund im Rudel soll der Hund in der Familie nicht irgendwann selbstständig werden und vielleicht sogar abwandern und ein eigenes Rudel gründen. Deshalb sollte der Mensch von Anfang an beim Einzug des Hundes in die Familie klare Regeln definieren, an die sich sowohl der Hund als auch alle Familienmitglieder halten müssen.
Eine Ausnahme ist kein Problem, mehrere verunsichern den Hund
Natürlich ist man gerade nach einem stressigen Arbeitstag eher versucht, eine Ausnahme zu machen, weil man vielleicht nicht mehr so geduldig ist. Darf der Hund normalerweise nicht auf der Couch liegen, hat man nach endlosen Diskussionen im Büro vielleicht keine Lust mehr auf eine "Diskussion" mit dem Hund. "Na gut, dann darfst du halt heute hier liegen bleiben…" Denn eigentlich kann man eine Kuschelstunde mit dem Hund auf dem Sofa selbst gerade gut gebrauchen… Dies ist im Einzelfall auch kein Weltuntergang. Machen wir aber ständig Ausnahmen und werfen die aufgestellten Regeln vermehrt über den Haufen, vermitteln wir damit unseren Hunden, dass sie uns Menschen nicht ernst nehmen müssen, weil wir es ja sowieso nicht so meinen. Doch wie soll man sich an jemandem orientieren, ihm „sein Leben anvertrauen“, wenn man ihn nicht ernst nimmt, ihn nicht als souveränen und selbstsicheren Partner wahrnimmt?
Hunde suchen im Menschen einen souveränen Partner
Konsequente Erziehung – bei Kindern sowie Hunden – mit Regeln und Strukturen bedeutet nun aber nicht, dass eine strikte Diktatur vorherrscht. Es geht nicht darum, den eigenen Willen mit Härte und scharfer Stimme durchzusetzen. Wer einen anderen mit Gewalt zu etwas zwingen will, erreicht zwar vielleicht, dass dieser eine bestimmte Handlung ausführt. Als Führungspersönlichkeit, an der sich der andere orientiert, dem er vertraut und mit Achtung gegenübertritt, wird man mit einer solchen Handlungsweise jedoch mit Sicherheit nicht wahrgenommen. Vielmehr führt ein solches Durchsetzen eigener Wünsche beim Gegenüber zu Unsicherheit und im schlimmsten Fall sogar zu Meideverhalten oder Gegenwehr. Nur wenn ich also Verantwortung übernehme und mich selbst als souveräner Partner beweise, werden mich die anderen als Führungspersönlichkeit wahrnehmen und sich mir freiwillig anvertrauen, egal, ob es sich dabei um ein Rudel Hunde oder den Menschen im sozialen Verband handelt. Verantwortung übernehmen und Vertrauen schaffen sind also die beiden wichtigsten Punkte einer guten Beziehung zwischen Mensch und Hund!
Respektiere die spezifischen Bedürfnisse Deines Vierbeiners
Verantwortung bzgl. der Erziehung des Hundes zu übernehmen bedeutet damit auch, die rasse- und persönlichkeitsspezifischen Bedürfnisse und Interessen eines Hundes zu respektieren, seine individuellen Stärken und Schwächen zu erkennen und entsprechend im Training zu berücksichtigen. Doch nicht immer passen diese Interessen zu den gesellschaftlichen Bedingungen unserer Zeit. Kein Hund kann unbegrenzt freilaufen, allein bei dem Verkehr der heutigen Zeit würde er dies vermutlich nicht lange unbeschadet überleben. Hasen und Rehen hinterherzuhetzen ist ebenso unerwünscht wie den Nachbarshund von Gegenüber beim Zusammentreffen im Park territorial zu stellen und zu vertreiben. Hunde müssen sich in unserem Alltag an viele Regeln halten, die für sie eigentlich vollkommen unverständlich und unnatürlich sind. Eine artgerechte Hundehaltung, bei welcher der Hund seiner Art entsprechend alle seine Bedürfnisse ausleben kann, ist damit im Grunde genommen heutzutage gar nicht mehr möglich! Daher muss der Mensch für Alternativen sorgen! Damit der Jagdhund seine jagdliche Motivation ausleben kann, müssen Jagdspiele, wie die Suche nach Beute oder das Verfolgen einer Spur, zum Alltag des Hundes gehören. Territorialen Hunden muss man ihr Bedürfnis, Haus und Garten bewachen zu dürfen, in Grenzen ermöglichen, indem man z. B. eine Aufgabenteilung vornimmt. Der Mensch ist dann für den vorderen Bereich mit direktem Kontakt zur Außenwelt zuständig, der Hund beispielsweise für den hinteren Bereich.
Zu Regeln gehören Alternativen, die die Hunde-Bedürfnisse befriedigen
Regeln dürfen also nicht einfach nur "Verbote" beinhalten. Der Mensch muss dem Hund verdeutlichen, dass er sich zwar in der Beziehung Mensch-Hund an gewisse Regeln halten muss, dafür aber seine Bedürfnisse in einem anderen Rahmen ausleben kann. Und da es der Mensch ist, der ihm diese Möglichkeiten bietet, führt dies wiederum dazu, dass der Hund den Menschen als souveränen Partner wahrnimmt! Verantwortung bzgl. der Erziehung des Hundes zu übernehmen, bedeutet aber auch, für dessen Sicherheit zu sorgen. Und dies beginnt schon beim Welpen… Da wird der Welpe, der vor wenigen Tagen erst in die Familie eingezogen ist und damit viele neue Eindrücke verarbeiten muss, in der Welpengruppe auf den Boden gesetzt und sich selbst überlassen. "Geh schön spielen…" heißt es dann noch meistens. Dass der kleine Welpe niemals freiwillig in eine Gruppe fremder Hunde gegangen wäre, fällt dem Menschen gar nicht auf. Erstarrt und überfordert sitzt der Welpe da, bedrängt von fünf oder sechs anderen Welpen, und sucht verzweifelt Hilfe. Diese vermutet er nun beim Menschen und verkriecht sich hinter diesem. Doch anstatt, dass der Mensch nun einschreitet, den kleinen Welpen aus der Situation herausnimmt und dafür sorgt, dass dieser sich in kleinen Schritten an den Kontakt mit fremden Hunden gewöhnen kann, indem er erst einmal einen fremden, eher vorsichtigen Welpen kennenlernt, verlässt der Mensch nun womöglich noch die Wiese und lässt den Welpen ganz allein zurück. Der Welpe lernt direkt in den ersten Tagen, dass der Mensch kein verlässlicher Partner ist, dem man vertrauen kann.
Der Umgang mit Regeln macht Hunde glücklicher als grenzenlose Freiheit
Man kann also sagen, dass erzogene Hunde glücklich sind. Denn konsequentes Handeln, der Umgang mit Situationen, die den Hund überfordern, sowie das Beachten der Bedürfnisse des Hundes vermitteln diesem, dass der Mensch Verantwortung übernimmt, und geben ihm dadurch ein hohes Maß an Sicherheit. Der Hund kennt somit seinen Platz und die damit verbundenen Aufgaben im sozialen Gefüge und weiß einfach schlichtweg, woran er ist. Unsere Hunde müssen sich in unserem Alltag und in unserer Gesellschaft an so viele, für sie unnatürliche Regeln anpassen, da haben sie es einfach verdient, sich auf ihren jeweiligen Menschen verlassen und diesem vertrauen zu können. Vor allem weil wir das Privileg genießen, von unseren Hunden als vollwertiger Sozialpartner angesehen zu werden. Doch welche Regeln sind nun sinnvoll, welche Regeln muss bzw. sollte man aufstellen? Im Grunde genommen muss dies jeder Mensch für sich, seinen Hund und das Leben, das er führt, selbst entscheiden. Da sowohl jeder Hund als auch jeder Mensch andere Bedürfnisse hat und sich der Alltag und die damit verbundenen Regeln und Grenzen enorm unterscheiden, gibt es – außer dem gegenseitigen Respekt füreinander – keine Regeln, die immer für alle Mensch-Hund-Beziehungen gelten. Das bedeutet nun aber nicht, dass der Hund „machen kann, was er will“. Denn auch er muss lernen, die Bedürfnisse des Menschen zu respektieren, da nur so ein harmonisches Zusammenleben beider Partner erfolgen kann. Die meisten Menschen wünschen sich, dass der Hund sich draußen auf dem Spaziergang an ihnen orientiert. Er soll kommen, wenn sie ihn rufen, er soll nicht jagen und keine fremden Menschen belästigen. In der Wohnung dagegen gibt es kaum Regeln, an die der Hund sich halten soll, hier darf er im Großen und Ganzen „machen, was er will“, solange er die Einrichtung nicht zerstört. Doch dies ist für einen Hund nicht verständlich…
Die zwei wichtigen Bereiche: Kernraum versus Aktionsraum
Der Lebensraum unserer Hunde lässt sich in die zwei Bereiche, in den "Kernraum" und in den "Aktionsraum", unterteilen. Der Kernraum beinhaltet ursprünglich die Bereiche, die zur Aufzucht des Nachwuchses benötigt werden, also z. B. die Wurfhöhle sowie Plätze zum Ruhen während des Tages und zum Schlafen in unmittelbarer Nähe der Höhle. Zum Aktionsraum des Hundes gehört grundsätzlich jeder Raum, der sich außerhalb des Kernraums befindet. Ursprünglich befindet sich im Aktionsraum das Jagdrevier des Hundes, welches sich bzgl. der Größe durch die zur Verfügung stehenden Ressourcen definiert. Beim Haushund besteht der Kernraum aus dem Wohnbereich (Wohnung/Haus) und teilweise auch dem Garten. Der Garten ist sozusagen die Grenze zum Aktionsraum und aus Hundesicht daher ein Übergangsraum. Für manche Hunde – je nach Rassedisposition und bisherigen Erfahrungen – kann aber bereits auch der Garten zum Aktionsraum zählen. Der Kernraum soll daher vor allem der Ruhe dienen, neben dem Schlaf finden hauptsächlich ruhige Aktivitäten wie Kuscheleinheiten oder aber Pflegemaßnahmen statt. Bei schlechten Wetterverhältnissen, Läufigkeit der Hündin, Erkrankung des Hundes oder Menschen sowie z. B. bei sehr reizempfänglichen Hunden können auch ruhige Beschäftigungsformen, wie z. B. der Aufbau der Grundsignale „Sitz“ oder „Platz“ oder auch die Suche nach kleinen Gegenständen, durchgeführt werden. Alle dynamischen Übungen und Trainingsformen, wie z. B. Lauf- und Rennspiele, sollen daher draußen stattfinden. Die meisten Anforderungen an unsere Hunde, wie z. B. das entspannte Laufen an der Leine oder das Kommen auf Signal, erfolgen primär im Aktionsraum. Der Hauptbestandteil des Zusammenlebens findet jedoch im Kernraum statt, in dem wir die meiste Zeit mit unseren Hunden verbringen. Deshalb bilden die Regeln und Strukturen des Kernraums die Basis für die Erziehung unserer Hunde im Aktionsraum. Soll sich der Hund draußen, im Aktionsraum, am Menschen orientieren und dessen Regeln einhalten, muss er diesen auch im Kernraum als Führungspersönlichkeit wahrnehmen. Und dazu ist es unabdingbar, dass der Hund lernt, sich auch im Kernraum an Regeln und Strukturen zu halten, die der Mensch vorgibt. Ein Hund der also in der Wohnung alle Entscheidungen selbst trifft, keine Grenzen einhalten muss und über sämtliche Ressourcen frei verfügen kann, wird auch draußen, wenn er mit seinem Menschen unterwegs ist, selbst entscheiden, ob er z. B. auf den Rückruf seines Menschen reagiert oder doch lieber weiter mit den anderen Hunden spielt bzw. der Nachbarskatze hinterherjagt.
(Ein Beitrag von Alexandra Schweiger - Martin Rütter DOGS Tirol)