Rudelchef & Dominanz: Warum die wenigsten Hunde dominant sind
Seit mittlerweile mehr als 2 Jahrhunderten geistert das Schlagwort „Dominanz“ durch unsere Gehirne. Kaum ein Hundehalter bzw. -trainer kommt daran vorbei. Ein Schlagwort, unter dessen Deckmantel eine nicht zu beziffernde Anzahl von Hunden in der Ausbildung, Haltung und sogar Zucht unterdrückt und gequält wurden und werden.
Mit Schaudern erinnere ich mich an meine Kinder- und Jugendzeit zurück, wo der Spruch „Du musst deinen Hund brechen“ bzw. „zeig dem mal, wer der Rudelführer ist“ als die einzig wahre Erziehungsmethode angesehen wurde. Strom- und Stachelhalsbänder haben die wenigsten Menschen für eine Gegen-Wortmeldung hinterm Ofen hervorgelockt und der teilweise immer noch beliebte „Alphawurf “ gehörte in Hundeschulen zur täglichen Routine. Dies hat sich Gott sei Dank bereits in weiten Teilen des zumindest mitteleuropäischen Raumes verändert und die „Berufsgruppen“, die immer noch Strom und Stacheln in regelmäßigem Einsatz haben, gehören eher einer Minderheit an.
Dominanz ist in unserem heutigen Sprachgebrauch größtenteils mit Gewalt und Aggression verbunden. Positive Verstärkung wird immer als der goldene Weg bezeichnet. Doch ist das wirklich immer so? Und was ist Dominanz überhaupt? Den Begriff zu erklären ist nicht leicht. Wissenschaftler sind sich einig, dass sie sich nicht einig sind. Und natürlich vertritt jede Strömung der Hundeerziehung ihren ganz eigenen Standpunkt. Wie sehr oft, wenn unterschiedliche Standpunkte von Hundemenschen zu einer Diskussion führen, werden diese leider immer extrem emotional geführt, von Sachlichkeit keine Spur. Jeder versucht dem anderen seine Überzeugung aufzuzwingen – den anderen zu „dominieren“. Wir Menschen haben das untereinander also schon perfektioniert.
Wikipedia erklärt den Begriff Dominanz wie folgt: „Unter Dominanz versteht man in der Biologie und in der Anthropologie den Zustand, dass die einen Individuen gegenüber den anderen Individuen einen hohen sozialen Status aufweisen, worauf Letztere unterwürfig reagieren. Das Gegenteil von Dominanz ist Unterwürfigkeit oder Subdominanz. Dominanzhierarchien sind bei vielen Tieren einschließlich der Primaten zu finden und auch beim Menschen. Individuum A schränkt die Rechte und Freiheiten von Individuum B ein und gesteht sich selber diese Rechte und Freiheiten zu, was von B akzeptiert wird. Dominanz ist immer beziehungsspezifisch und ist zeit- und situationsabhängig.“ Glaubt man der Erklärung von Wikipedia, wird auf jeden Fall deutlich, dass es die vielfach beschriebene „angeborene Dominanz“ nicht geben kann. Denn wie soll ein einzelner Hund dominant sein, wenn zur Ausübung der Dominanz immer ein Beziehungsgeflecht gegeben sein muss? Es gehören demnach immer zumindest zwei oder mehrere Lebewesen dazu und es gibt de facto „DEN dominanten Hund“ nicht. Gerne schieben wir unerwünschtes Verhalten unserer Hunde auf dessen Dominanz anstatt uns mit den Ursachen dafür auseinanderzusetzen.
Gleichzeitig stellt sich hier die ganz wichtige Frage: Wie kommen Lebewesen zu einem hohen sozialen Status, um an ihre Privilegien zu kommen? Ist es immer mit Aggression verbunden, mit Stärke oder ev. sogar mit Ignoranz, Konsequenz, mit Cleverness? Vielleicht schauen wir uns vorab einmal die Entstehung der Dominanztheorien an. Die Dominanztheorie hat ihren Ursprung im frühen 19. Jahrhundert, genauer gesagt erforschte Pierre Huber 1802 erstmals Rangordnungen von Hummeln. 1922 wurde das Modell von Schjelderup-Ebbe auf Wirbeltiere übertragen und dieser norwegische Zoologe beschrieb außerdem das Sozialverhalten von Hühnern und anderen Vögeln. Aus diesen Forschungen stammt der beliebte und übergreifend verwendete Begriff der „Hackordnung“. In den 60er- und 70er-Jahren wurde vermehrt zu diesem Thema Primatenforschung betrieben.
Die ersten bahnbrechenden Forschungen, welche immer noch die traditionelle Betrachtungsweise der sozialen Systeme von Wölfen darstellen, wurden 1947 von Rudolf Schenkel vor allem in Gehegesituationen, also in Gefangenschaft, beschrieben. Hier bedeutet Dominanz, dass ein Tier jederzeit gewisse Privilegien in Anspruch nehmen kann, wenn es das möchte. Wir können hier also schon einmal festhalten: Dominanz ist ein Privileg, die Möglichkeit und KEINE Pflicht seine Rechte durchzusetzen!
Neuere Dominanzkonzepte (wie z.B. von Irvin Bernstein, William A. Mason oder Carlos Drews) belegen sogar, dass für die Aufrechterhaltung der Rangordnung die Unterwerfung viel wichtiger ist als das Verhalten des Dominanten. Dominanz wird also von unten stabilisiert. Klar ausgedrückt, der Rangtiefere verzichtet freiwillig auf gewisse Ressourcen im Tausch gegen andere. Quid pro quo. Eine Rollenverteilung innerhalb einer Gruppe sichert zudem den Fortbestand der Gruppe. Demnach kein Überleben ohne Kooperation! Auch besagen die neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen aus dem amerikanischen Raum, dass in einem frei lebenden Wolfsrudel mehr eine Eltern-Kind-Familie stattfindet. Dies würde bedeuten: es gibt Handlungsspielraum innerhalb gewisser Regeln. So starre hierarchische Strukturen, wie es lange Zeit die Annahme war, treten nur dann auf, wenn Ressourcen knapp werden und die Möglichkeit zum Abwandern fehlt, wie in Gefangenschaft. Für mich stellt sich zudem – trotz zugegeben spannender Erkenntnisse aus der Forschung – immer wieder die Frage, ob wir die Untersuchungen an Wölfen, unabhängig ob frei oder in Gefangenschaft lebend, immer noch 1:1 auf unsere heutigen Haushunde übertragen können. Wir haben unsere Hunde über Jahrhunderte physisch und psychisch verändert – und das nicht immer zum Vorteil des Tieres. Provokant gesprochen: wir Menschen stammen ja auch vom Affen ab, lehnen wir uns deswegen immer an der Primaten-Forschung an? Wohl kaum.
Ich gehe jedoch komplett mit den neuesten Wolfsforschungen konform, dass das Vorhandensein einer Art von „Grundvertrauen“ zwischen Halter und Hund für das Zusammenleben absolut essenziell ist. Hier haben wir wieder die gesunde Eltern-Kind-Beziehung mit Regeln innerhalb eines Handlungsspielraums. Vielleicht beruhigt viele auch, dass die wenigsten unserer Hunde die Weltherrschaft anstreben und die meisten stark an einer Kooperation mit uns interessiert sind. Dies schon alleine aufgrund ihrer begrenzten Möglichkeiten, sich selbst zu versorgen. Regeln sind zudem in Wirklichkeit keine Verschlechterung für den Hund. Diese schaffen Klarheit. Klarheit, die wiederum Sicherheit gibt und wichtig ist für Unversehrtheit.
Natürlich bilden wir mit unseren Hunden kein klassisches Rudel – auch dieses wird höchst emotional diskutiert. Wir leben jedoch in einem Sozial- oder Familienverbund miteinander, wo jemand die Regeln festlegen muss und damit auch eine gewisse Führungsposition einnimmt. Wünschenswert in einer souveränen, ruhigen, selbstbewussten und stabilen Form, sodass unsere Hunde auch Sinn darin sehen, sich an uns zu orientieren und zwar ohne Zwang. Unser krampf haftes Bemühen um Dominanz hindert uns schließlich oft daran, die wirklichen Bedürfnisse unserer Hunde zu erkennen, mal loszulassen und einfach die Gesellschaft unserer wundervollen Hunde zu genießen.
Ein Artikel unserer Kollegin Lenka Schlager von der Martin Rütter Hundeschule Mödling / St Pölten